Tanz-Bilanz 2021/22
So lief die Saison des Stuttgarter Balletts
Von der fristlosen Entlassung des Musikdirektors bis zum Diskurs über Diversität: Die Saison des Stuttgarter Balletts spielte nicht nur auf der Bühne.

© Stuttgarter Ballett
Agnes Su und Friedemann Vogel in „Aurora’s Nap“: Johan Ingers „Dornröschen“-Parodie kam im Rahmen des Ballettabends „Pure Bliss“ zur Uraufführung.
Von Andrea Kachelrieß
Nachdem die Jubiläumsspielzeit zum 60. Geburtstag seiner Kompanie mehr von Corona als von Feierlaune geprägt war, wollte sich das Publikum des Stuttgarter Balletts nicht noch eine Saison nehmen lassen. Und so durften sich Intendant Tamas Detrich und sein Team in der nun beendeten Spielzeit über fast immer ausverkaufte Vorstellungen freuen, während anderswo der große Ansturm ausblieb.
Dass selbst zuletzt trotz hohen Krankenstands keine Vorstellungen ausfallen mussten, zeigt das große Engagement aller. Für die Tänzerinnen und Tänzer ist das schön: Ihre Karrieren sind kurz, jeder vertane Chance schmerzt doppelt.
Warum ein Schatten auf der Saison lag
Also alles wie immer? Mit vier Uraufführungen, der Rückkehr großer Cranko-Ballette und einem breiten Repertoire von Forsythe bis „Dornröschen“ ließ sich das vom Theatersessel aus fraglos so wahrnehmen. Hinter den Kulissen war jedoch viel Unruhe; ein Streit mit dem Dirigenten Mikhail Agrest sorgte bei den Proben für die Wiederaufnahme von „Onegin“ für so viel Turbulenzen, dass der Ballettintendant zum Saisonstart nicht wegen der Kunst im Fokus stand. Die fristlose Entlassung Agrests, gegen die der Musikdirektor erfolgreich klagte, warf ihren Schatten auf die ganze Saison und wartete auch am Ende auf eine versöhnliche Lösung.
„Onegin“ in neuer Ausstattung
Auf der Bühne wurde „Onegin“ dennoch zum heftig applaudierten Höhepunkt. Das lag zum einen an der Freude des Publikums über die Rückkehr von großen Erzählstoffen nach der pandemiebedingten Pause. Zum anderen präsentierte sich Crankos Klassiker mit neuer Wucht dank der von Jürgen Rose frisch herausgeputzten und neu ausgeleuchteten Ausstattung. Und mit Agnes Su, nach ihrem Rollendebüt als Tatjana noch auf der Bühne zur Ersten Solistin befördert, kristallisiert sich eine weitere starke dramatische Ballerina heraus.
Ein Abend, der einem einzigen Choreografen gewidmet ist, hat in Stuttgart Seltenheitswert. Johan Inger auf diesem Weg im Februar als wichtigen Schrittmacher herauszustellen, entspricht dem Renommee des Schweden. Das Repertoire-Stück „Out of Breath“, die Erstaufführung der locker skizzierten, lässig getanzten Gruppen von „Bliss“ und eine Uraufführung gab es. Schade, dass Inger mit seiner kostümüberfrachteten, neuen „Dornröschen“-Parodie „Aurora’s Nap“ das Bild vom coolen Schrittmacher trübte, das Stuttgart bis dahin von ihm hatte.
Nachhaltiger beeindruckte der choreografische Nachwuchs, mit dessen „Creations VII–IX“ der Uraufführungsabend Ende Mai bestückt war und mit dem die Saison auch endete. Vor allem Vittoria Girelli gelang mit „Self-deceit“, einer getanzten Reflexion über Täuschung und Verdrängung, ein stimmiges Stück auf der Höhe der Zeit. Mit virtuosen Momenten blickte Roman Novitzky in „Reflection/s“ auf ein Tänzerleben zurück. Sehr nachdenklich zeigten sich auch Louis Stiens und Shaked Heller, die sich mit „Ifima“ vom Stuttgarter Ballett verabschiedeten.
Auch andere scheidende Tänzerinnen und Tänzer wie Starballerina Alicia Amatriain, die ihre aktive Karriere beendete, stimmten in diesen kritischen Chor ein, der das System Ballett in Sachen Diversität und hierarchischen Strukturen hinterfragt. Der Diskurs, was Ballett heute leisten muss, wird sicherlich die nächste Spielzeit begleiten.
Choreografischer Nachwuchs zeigt sich nachdenklich

© © Stuttgarter Ballett
Den Abend „Beethoven-Ballette“ gab’s zum Saisonstart, er wurde aus der letzten Saison übernommen: Hans van Manens „Adagio Hammerklavier“ machte den Auftakt.

© © Stuttgarter Ballett
Den Abend „Beethoven-Ballette“ gab’s zum Saisonstart: Mauro Bigonzetti war mit „Einssein“ vertreten.

© © Stuttgarter Ballett
Den Abend „Beethoven-Ballette“ gab’s zum Saisonstart: Hans van Manen war mit einem zweiten Stück dabei – „Große Fuge“.

© Stuttgarter Ballett
Frisch von Ausstatter Jürgen Rose herausgeputzt und ausgeleuchtet präsentierte sich „Onegin“ im Oktober in neuer Frische.

© © Stuttgarter Ballett/© Stuttgarter Ballett
Ebenfalls aus der vergangenen Saison übernommen: das Programm „New/Works“; Christian Spuck war mit „Cassiopeia’s Garden“ dabei.

© © Stuttgarter Ballett/© Stuttgarter Ballett
Ebenfalls aus der vergangenen Saison übernommen: das Programm „New/Works“; Marco Goecke gestaltete dafür das Duett „Nachtmerrie“ für die jungen Tänzer Henrik Erikson und Mackenzie Brown.

© © Stuttgarter Ballett/© Stuttgarter Ballett
Ebenfalls aus der vergangenen Saison übernommen: das Programm „New/Works“, Edward Clug war mit „Source“ vertreten.

© © Stuttgarter Ballett/© Stuttgarter Ballett
Ebenfalls aus der vergangenen Saison übernommen: das Programm „New/Works“; William Forsythe brachte „Blake Works I“ zum Tanzen.

© © Stuttgarter Ballett
Marcia Haydées „Dornröschen“ tanzte das Stuttgarter Ballett im Herbst.

© © Stuttgarter Ballett
Ebenfalls aus der vergangenen Saison übernommen: das Programm „Höhepunkt“ mit zwei Balletten von Jirí Kylián, hier eine Szene aus „Falling Angels“.

© © Stuttgarter Ballett
Ebenfalls aus der vergangenen Saison übernommen: das Programm „Höhepunkt“ mit zwei Balletten von Jirí Kylián, hier eine Szene aus „Petite Mort“.

© Staatstheater Stuttgart
Ebenfalls aus der vergangenen Saison übernommen: das Programm „Höhepunkt“ mit Roland Petits „Le jeune homme et la mort“.

© dpa/Bernd Weissbrod
Ebenfalls aus der vergangenen Saison übernommen: das Programm „Höhepunkt“ – zum Finale gab es Béjarts „Bolero“ mit einem Corps in je nach Coronalage wechselnder Stärke.

© © Stuttgarter Ballett
Ebenfalls in der Saison 2021/22 gesetzt: MacMillans „Mayerling“ tanzte auch beim Sommerevent „Ballett im Park“

© Stuttgarter Ballett
Die erste veritable Premiere stand Ende Februar an, der Abend „Pure Bliss“ war Johan Inger gewidmet. Als Erstaufführung war das Keith-Jarrett-Ballett „Bliss“ zu sehen.

© Stuttgarter Ballett
Mit dabei bei „Pure Bliss“: Ingers Ballett „Out of Breath“

© Stuttgarter Ballett
Gleich vier Uraufführungen bot der „Creations“-Abend im Mai im Schauspielhaus. Die von Intendant Tamas Detrich durchnummerierte Uraufführungsreihe wuchs um Nummer 7, Vittoria Girellis „Self-deceit“.

© Stuttgarter Ballett
Gleich vier Uraufführungen bot der „Creations“-Abend im Mai im Schauspielhaus. Die von Intendant Tamas Detrich durchnummerierte Uraufführungsreihe wuchs um Nummer 8, Roman Novitzkys Rückblick in eigener Tänzersache mit dem Titel „Reflection/s“. Das Alter Ego Novitzkys tanzte Henrik Erikson.

© © Stuttgarter Ballett
Gleich drei Uraufführungen bot der „Creations“-Abend im Mai im Schauspielhaus. Die von Intendant Tamas Detrich durchnummerierte Uraufführungsreihe wuchs um Nummer 9, einem gemeinsamen Stück von Louis Stiens und Shaked Heller. Mit „Ifima“, als Trio getanzt mit Angelina Zuccarini, verabschiedeten sich die Tänzer vom Stuttgarter Ballett.