Zwei Sachbücher im Bestseller-Test
Über Putin konnte man eigentlich alles wissen
Gute Sachbücher sollten ihren Lesern neue Denkanstöße geben. Zwei Bestsellern gelingt das: einem über die Rolle Afrikas in der Globalgeschichte und einem über Putins Russland.

© dpa/Vladimir Smirnov
Der russische Staatspräsident und Kriegsführer Wladimir Putin
Von Markus Reiter
Wann wird ein Buch ein Bestseller? Die ehrlichste Antwort lautet: „Keine Ahnung!“ Das gilt besonders für Sachbücher. Verlagslektoren können höchstens ein paar hilfreiche Ingredienzien nennen, die womöglich zum Erfolg führen.
Gut ist es, wenn der Autor oder die Autorin irgendwas mit Fernsehen oder Social Media macht. Bekannte Schauspielerin geht auch. Oder Musiker. Inhaltlich passen putinfreundliche und impfskeptische Verschwörungstheorien aus der rechten Ecke oder wohlstandssatte linke Kritik am Neoliberalismus (wobei „Neoliberalismus“ alles umfasst, was irgendwie nach Marktwirtschaft aussieht). Solche Bücher könnte man „Affirmationsbücher“ nennen. Oder auch „Nickbücher“ – weil die angesprochene Leserklientel Seite für Seite zustimmend nickt: „Genauso ist es!“ „Habe ich immer schon gesagt!“ Gedanken hingegen, die bedenkenswert und klug sind, obwohl sie quer zu den eigenen Überzeugungen stehen, haben wenig Chancen.
Und dennoch: Manchmal schleicht sich ein Buch auf die Bestsellerliste, das weit von den genannten Kriterien entfernt ist. Offenbar gibt es noch genug Menschen, die bereit sind, sich ihre bisherigen Vorstellungen von der Welt infrage stellen zu lassen. Der afroamerikanische „New York Times“-Journalist Howard W. French zum Beispiel hat eine als „Globalgeschichte“ titulierte Untersuchung über „Afrika und die Entstehung der modernen Welt“ verfasst, die sich zumindest ein paar Wochen unter den Top 20 der Sachbücher halten konnte (inzwischen ist sie abgerutscht; Klett-Cotta, 512 Seiten, 35 Euro).
Der König von Benin war vermutlich der reichste Mann der Welt
In der Tat taucht der afrikanische Kontinent in der westlichen Geschichtsschreibung nur am Rande auf. „Lange hat man der Öffentlichkeit eingeredet, dass Afrika keine nennenswerte vormoderne Geschichte habe, oder zumindest kaum eine, die für das größere Bild unserer Welt eine Rolle spielen würde“, schreibt French. Dabei existierten auf dem Kontinent vor dem Eindringen der Europäer straff organisierte Königreiche, die es an staatlicher Organisation mit den europäischen Mächten aufnehmen konnten.
Aber wer in Westen kannte schon vor der Debatte um die Benin-Bronzen das Königreich Benin? Dessen Herrscher, der Oba, verfügte über so gewaltige Goldvorkommen, dass er im 15. Jahrhundert vermutlich der reichste Mensch der Welt gewesen ist. Oder wer weiß um das zentralafrikanische Königreich Kongo? Es handelte sich um ein straff verwaltetes, militärisch einflussreiches Herrschaftsgebiet, das lange auf Augenhöhe mit europäischen Kolonialmächten agierte. In beiden Fällen waren es in erster Linie innere Zersetzungsprozesse, die die Reiche zu Fall brachte. Dass Europa und nicht Afrika letztlich die Herrschaft über fast die ganze Welt erlangte, erscheint bei näherem Hinsehen eher als eine Laune der Geschichte.
Nicht immer hilft die moralische Sicht weiter
Für den wirtschaftlichen Aufstieg des Westens, das zeichnet French in einem eleganten und anschaulichen Stil nach, waren die Sklaven aus Afrika entscheidend – zunächst als Arbeitskräfte auf den Zuckerplantagen in der Karibik und in der Neuen Welt, dann auf den Baumwollfeldern Nordamerikas. Ohne Sklaven wäre der Reichtum Europas und Nordamerikas wohl nicht möglich gewesen.
Nicht alles an dieser Globalgeschichte ist moralisch eindeutig. Am Verkauf der Sklaven waren die Afrikaner selbst beteiligt. Die Eliten des Königreichs Kongo zum Beispiel finanzierten ihren zunehmend dekadenten Lebensstil, indem sie Feinde und Untertanen an die Portugiesen verscherbelten. Erst nachdem die Rollen Ausbeuter und Ausgebeutete klar verteilt waren, in den entstehenden Vereinigten Staaten, lassen sich Gut und Böse wieder besser zuordnen.
Bei French lernt man erstaunt, dass selbst Dänemark auf seinen karibischen Insel-Kolonien Sklaven auf Zuckerrohrplantagen schuften ließ. Als einzige europäisch-asiatische Macht beschränkte sich Russland darauf, sich kolonial auszudehnen, indem es sich lieber direkt angrenzende Länder einverleibte – und das bis heute versucht. Wladimir Putins krude Geschichtsvorstellungen sind geprägt vom Schmerz über den Verlust dieses Imperiums.
Der Moskauer Korrespondent der Wochenzeitung „Die Zeit“, Michael Thumann, zeichnet in seinem detailreichen Porträt Putins „Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat“ (Spiegel-Sachbuchbestseller Hardcover Platz 27, C.H. Beck, 288 Seiten, 25 Euro) und seiner Politik die Vorgeschichte des russischen Überfalls auf die Ukraine nach.
Der Autor hat den russischen Präsidenten mehrfach persönlich getroffen. Er zertrümmert viele Mythen der Putin-Apologeten, bemüht sich jedoch wacker, das Regime von innen heraus zu verstehen. Zwar hält er den Kremlherrscher für rational genug, seine Atomwaffen nicht einzusetzen. Ganz sicher ist er sich aber nicht. „Revanche“ ist auf jeden Fall ein Sachbuch, dass es zu Recht auf die Bestsellerliste geschafft hat.