Beim VfB läuft(nur) der Ball

Der VfB Stuttgart ist als Ballbesitzmannschaft gereift, weil das Team seine große Schwäche der Vorsaison zur Stärke verwandelt hat.

In dieser Saison ist der VfB oft die spielbestimmende Mannschaft, die den Ball zirkulieren und den Gegner hinterherlaufen lässt.

© Baumann

In dieser Saison ist der VfB oft die spielbestimmende Mannschaft, die den Ball zirkulieren und den Gegner hinterherlaufen lässt.

Von Gregor Preiß

Stuttgart - Klar, Serhou Guirassy überragt alles und jeden. Acht Tore in vier Spielen, drei davon allein beim jüngsten 3:1-Sieg in Mainz, lassen den Mittelstürmer des VfB Stuttgart in einem glänzenden Licht erscheinen. Wie hoch die Torquote zu bewerten ist, verdeutlicht allein der xg-Wert, also der Wert für die zu erwartenden Tore (expected goals). Rein von der Qualität der Torchancen her hätte der 27-Jährige in den vier Spielen nämlich nur 3,1 Treffer erzielen dürfen. Tatsächlich gelangen dem Guineer acht Tore. Auf Grundlage von Wahrscheinlichkeiten hat Serhou Guirassy absurd überperformt.

Eine Statistik, die beim ersten Blick auf die bisherigen Saisondaten bei weitem nicht die einzige mit Überraschungseffekt beim Tabellenvierten darstellt. Denn so gut die Mannschaft von Trainer Sebastian Hoeneß im Gesamtklassement dasteht, so schlecht schneidet sie bei einigen eigentlich relevanten Statistiken ab.

Zum Beispiel bei der Laufleistung. Ganze 451,7 Kilometer haben die Profis vom Wasen in den ersten vier Spielen abgespult. Neben Darmstadt 98 und dem FC Augsburg markiert das den drittschlechtesten Wert der Liga. Die Dauerläufer von der Ostalb, Aufsteiger 1. FC Heidenheim, liefen im gleichen Zeitraum 35 Kilometer mehr.

In anderen Laufdisziplinen sieht es für den VfB nicht besser aus. Sprints: Platz 17. Intensive Läufe – das ist die Kategorie, bei denen ein Spieler innerhalb von zwei Sekunden mindestens vier Meter pro Sekunde zurücklegt – Platz 15. In beiden Klassements belegt im Übrigen der kommende VfB-Gegner Darmstadt 98 (Freitag, 20.30 Uhr) jeweils den 18. und letzten Platz. Was für einen Aufsteiger mit bescheidenen spielerischen Qualitäten überraschend kommt, aber wiederum ein Indiz für den Grund des misslungenen Saisonstarts der Lilien ist.

Doch zurück zum VfB, der wenig läuft und damit ungefähr dort weitermacht, wo er in der vergangenen Saison aufgehört hat. Damals oft beanstandet und als eine der Ursachen für die miesen Ergebnisse ausgemacht, werfen die schlechten Laufwerte nun neue Fragen auf. Denn es läuft ja!

Die Erklärung lässt sich am besten über eine andere Statistik herleiten: den Ballbesitz. Das Statistikportal fbref.com weist für den VfB Stuttgart in den ersten vier Spielen 2650 Ballberührungen auf. Das sind 319 mehr als bei den bisherigen Gegnern des VfB. Im Schnitt kommen die Stuttgarter auf einen Ballbesitzanteil von 52 Prozent und liegen damit hinter spielstarken Teams wie den Bayern, Borussia Dortmund oder Bayer Leverkusen auf dem sechsten Platz. Wenn man so will, läuft beim VfB also nur der Ball.

Auch in Mainz war der letztjährige Fast-Absteiger die spielbestimmende Mannschaft, die den Ball zirkulieren und den Gegner hinterherlaufen ließ. Und wies darüber hinaus einen weiteren Topwert auf: 58 Prozent der Zweikämpfe entschieden die Gäste für sich. Und das gegen einen traditionell giftigen Gegner, der bis vor dem Spiel gegen den VfB die besten Zweikampfwerte der Liga aufwies.

Es war – neben Guirassy – der entscheidende Trumpf, besonders in der heiß umkämpften Schlussphase nach dem Mainzer Ausgleichstreffer. „Wir haben gemeinsam gut verteidigt und den Fokus auf das Richtige gelegt“, sagte Trainer Hoeneß. „Es war die Basis, um das Spiel wieder auf unsere Seite zu ziehen.“

So reift nach vier Spieltagen und dem besten Saisonstart seit 19 Jahren die Erkenntnis: Der einst unter Pellegrino Matarazzo auf den Weg gebrachte Ballbesitzfußball führt den VfB erstmals weit aus dem Tabellenkeller heraus. Weil auch die Passquote im Mittelfeld stimmt. 87,1 Prozent bedeuten Platz vier im Ligavergleich. Mehr noch: Weil die Stuttgarter ihre Tugenden – mit Ausnahme der zweiten Halbzeit von Leipzig (1:5) – stets in den richtigen Momenten des Spiels zum Tragen bringen. Wie in den letzten 20 Minuten in Mainz, als die entscheidenden Zweikämpfe gewonnen wurden. Die bisherigen vier Saisonspiele in der Gesamtheit betrachtet, liegt die Mannschaft bei der absoluten Zahl an gewonnenen direkten Duellen nur auf dem 15. Platz.

Nun taugt der schönste Ballbesitzfußball nichts ohne Effizienz im Abschluss. Womit wir wieder bei Serhou Guirassy und der Kaltschnäuzigkeit vor dem gegnerischen Tor wären. Auch das eine der großen Schwächen der vergangenen Saison, die sich nun in eine große Stärke gekehrt hat: Nur RB Leipzig macht hinsichtlich des mannschaftlichen xg-Werts aus wenig noch mehr.

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Erstellt:
18. September 2023, 22:06 Uhr
Aktualisiert:
19. September 2023, 21:56 Uhr

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