Bosch als Pionier der Psychiatriereform

Er war Elektroingenieur und Konzernlenker – dann schlug Robert Bosch junior einen anderen Weg ein. Er wurde Psychotherapeut. Innovativer Unternehmer war der Sohn des Firmengründers auf dem Gebiet der Psychiatrie: Vor 50 Jahren gründete er das heutige Rudolf-Sophien-Stift.

In einem Waldgebiet gelegen: Das Gebäude des Rudolf-Sophien-Stifts ist im Jahr 1914 eingeweiht worden.

© Lg/Kovalenko

In einem Waldgebiet gelegen: Das Gebäude des Rudolf-Sophien-Stifts ist im Jahr 1914 eingeweiht worden.

Von Mathias Bury

Stuttgart - Die 1970er Jahre waren eine Zeit des Aufbruchs. Wie nötig der war, das zeigt das Beispiel der Psychiatrie. Die hatte damals noch den Charakter einer Aufbewahranstalt. Patienten lebten – oder eher: vegetierten – in riesigen Sälen mit zig Betten. Schutz der Intimsphäre gab es nicht, die sanitären Anlagen waren vielerorts unhaltbar. Manche sprachen angesichts dieser Lage von einem nationalen Notstand.

Robert Bosch junior, obschon von einem anderen Fach, waren diese Verhältnisse bewusst. „Schon in seiner Jugend hatte er sich für die Psychiatrie interessiert“, sagt Johanna Bosch-Brasacchio. Und das Interesse hielt an. Warum, kann auch die Tochter nicht wirklich erklären. Das Leben als Sohn eines Übervaters wie Robert Bosch senior brachte jedenfalls „starke Herausforderungen“ mit sich. Trotz seines Interesses für die menschliche Psyche, aber auch für philosophische und spirituelle Fragen war Bosch junior „Elektroingenieur aus Leidenschaft“, sagt seine Tochter. Lange Jahre war er in der Geschäftsführung tätig, später im Aufsichtsrat. Vielleicht hat seine „schwierige Rolle in der Firma“ dann aber dazu beigetragen, dass er mit 43 Jahren beschloss, sich aus der operativen Leitung des Unternehmens zurückzuziehen und einen neuen beruflichen Weg einzuschlagen: als Psychotherapeut. Mit Jutta von Graevenitz, seiner Schwiegermutter, hatte er eine bekannte Psychotherapeutin in der Familie. Auch seine ihm eng verbundene Schwester Eva Madelung hat sich später einen Namen als systemische Therapeutin gemacht.

Vermutlich schon früh war dem an solchen Fragen interessierten Unternehmer der Gedanke gekommen, durch die Gründung einer Rehabilitationseinrichtung mit Werkstätten das schwere Los psychisch kranker Menschen zu verbessern. „Arbeit war immer sehr wichtig für ihn“, sagt Tochter Johanna Bosch-Brasacchio über ihren Vater. Zusammen mit seiner Schwester Eva gründete Robert Bosch junior deshalb die Heidehof-Stiftung, um ihr am Gemeinwohl orientiertes Denken in die Tat umsetzen zu können.

1973 war es dann so weit. Das von dem Unternehmer Rudolf von Knosp und seiner Frau Sophie als „Heim für Wiedergenesene“ erbaute, nach ihnen benannte und 1914 eingeweihte Stiftungsgebäude wurde von der Heidehof-Stiftung übernommen und erneuert. Zu einem „Übergangswohnheim mit Werkstatt vor allem für chronisch psychisch behinderte Menschen, die nicht mehr krank genug für eine Klinik und noch nicht gesund beziehungsweise beruflich und sozial selbstständig genug für eine Entlassung in die Gesellschaft waren“, schreibt der Historiker und Journalist Wolfgang Kress über die Anfänge des in einem Waldgebiet an der Leonberger Straße gelegenen Standorts.

Die Einrichtung war bundesweit ein Novum. Erst 1975 legte eine vom Bundestag eingesetzte Sachverständigenkommission zur Lage der Psychiatrie ihren Bericht zu einer Reform vor, die sogenannte Psychiatrie-Enquete. Robert Bosch junior und Eva Madelung „waren ihrer Zeit absolut voraus“, sagt Jürgen Armbruster. Der Vorstand der Evangelischen Gesellschaft (Eva), der Ende Juni in den Ruhestand geht, hat das Rudolf-Sophien-Stift seit der Übernahme 2006 durch die Eva als Geschäftsführer geleitet. 1977 wurde am Standort, wo es eine Arbeitstherapie-Abteilung und eine Rehabilitationseinrichtung gab, noch eine Klinische Abteilung eröffnet. Diese solle sich „auf die Psychotherapie verlegen“, schrieb Robert Bosch junior schon 1974 in einer Anweisung. Für Jürgen Armbruster, der sich in diesen Jahren noch als junger Mann im toskanischen Arezzo von den italienischen Pionieren der Sozialpsychiatrie inspirieren ließ, war auch dies „ein absolut innovativer und humanistischer Schritt“.

Mit der Übernahme durch die Evangelischen Gesellschaft wurde die Integration des Rudolf-Sophien-Stifts in das seit den 1980er Jahren auch von der Eva in Stuttgart aufgebaute Netz gemeindepsychiatrischer Einrichtungen forciert. Da man schon zuvor viele Kontakte zur Evangelischen Gesellschaft hatte und sich als kleiner Träger wenig Einfluss auf die Entwicklung versprach, entschloss sich die Heidehof-Stiftung zu der Übergabe.

Heute hat das Rudolf-Sophien-Stift 29 stationäre Betten und fünf Plätze in der sogenannten stationsäquivalenten Behandlung, bei der Betroffene im häuslichen Umfeld betreut werden. In der Institutsambulanz werden circa 500 Patienten versorgt, in der stationären und teilstationären Rehabilitation rund 50, Angebote in der beruflichen Reha biete man für etwa 500 Personen.

Insgesamt 150 Wohnplätze unterhalte man in vier Einrichtungen in Stuttgart und in Außenstellen in Esslingen, Heidenheim und Tübingen. Eine weitere ist im Rems-Murr-Kreis geplant. Um psychisch kranke Menschen wieder in Arbeit zu bringen, betreibt das Rudolf-Sophien-Stift etwa Rudolfs Küche und Café in der VHS Stuttgart, den Lib-Room, das Restaurant in der Württembergischen Landesbibliothek, und man organisiert die Museumsaufsicht im Stadtpalais.

Als Herausforderungen für die kommenden Jahre sieht Jürgen Armbruster die weitere Übertragung der Kompetenzen in der klinischen Reha in die Gemeindepsychiatrie. Der scheidende Geschäftsführer des Rudolf-Sophien-Stifts ist auch der Auffassung, dass die bestehenden gemeindepsychiatrischen Zentren in den Bezirken für mehr Präventionsarbeit zu Zentren für seelische Gesundheit entwickelt werden sollten. Und man müsse dringend der wachsenden Zahl von psychisch kranken Menschen in den Gefängnissen und unter Wohnungslosen begegnen. „Wir sehen immer mehr solche Menschen auf unseren Straßen“, sagt Armbruster.

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Erstellt:
12. Juni 2023, 22:10 Uhr

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