Das Ende der hippen Mitfahrzentrale

Die Reise zum Sex-Pistols-Sänger Johnny Rotten fand zwar nie statt. Doch sonst war in rund vier Jahrzehnten viel los in der Mitfahrzentrale Stuttgart-West. Ein Rückblick auf ein etwas „anderes“ Stuttgarter Reisebüro.

Von Georg Friedel

Stuttgart - Die Villa mit Pool auf Ibiza? Oder lieber die Jurte mit Yoga-Retreat an der Algarve? Alles nur ein paar Klicks entfernt. Ohne Netz geht bei der Urlaubsbuchung nichts mehr. Der digitale Nomade hat wahrscheinlich noch nie ein Reisebüro betreten. Geschweige denn so eines, wie es Dieter Riedel und Marie-Luise Vogel 40 Jahre lang im Stuttgarter Westen geführt haben.

In die Mitfahrzentrale Stuttgart-West (Mfz) kamen viele aus der Stuttgarter Szene und Subkultur: Musiker, Künstler, Kino- und Theaterleute, Galeristen und Alternative buchten hier. Auch Leute, die es nicht so dicke hatten. Punker schauten rein und riefen: „Dieter, mach mir One-Way-Neuseeland.“ Manche blieben in Down Under hängen. „Das waren coole Jungs, die gern Iggy Pop gehört haben“, sagt Riedel. Einer führe jetzt ein Backpacker-Haus in Neuseeland und sei DJ. Ein anderer produziere Honig.

Das Mfz-Schild am Haus der Lerchenstraße 65 hängt zwar noch wie eh und je. Und auch im Innern des kleinen Büros sieht es fast noch so aus wie früher. Mit dem Unterschied, dass dort statt Reiseprospekten und Katalogen nun Kunstwerke hängen und an den Wänden lehnen. Sie stammen aus dem Fundus des Willi-Baumeister-Schülers und Stuttgarter Malers Heinz Bodamer. „Dieter und Shirley“, wie alle Riedel und Vogel nennen, kümmern sich neuerdings um sein Werk.

Das Reisebüro ist schon ein halbes Jahr zu. Das heißt: Es ist Zeit für Neues. Aber Reisebüro oder Ausstellungsraum? Wo ist da eigentlich der Unterschied? „Beide, die Kunst und das Reisen, können den Horizont öffnen“, findet Riedel. Und beide entspringen dem gleichen Grundbedürfnis. Hölderlins Vermächtnis lockt bis heute: „Komm! Ins Offene, Freund!“ Es ist der ewige Imperativ, das Alte und Verkrustete aufzubrechen und neue Quellen der Inspiration zu suchen. Dieses Merkmal charakterisiere das Reisen wie die Kunst, betont Riedel. „Tolle Reisen haben auch immer etwas mit Freiheit und Erotik zu tun.“

Den Tanz ums goldene Kalb haben sie nie mitgemacht. Reisen im Luxussegment? Nein, lieber nicht: „Die Oberklasse haben wir nie bedient.“ Was sie ihren Kunden anboten, wollten sie vorab selbst sehen und erfahren. So wie zum Beispiel die Lykische Küste am Mittelmeer. Shirley hatte die wunderbare Gegend schon früh entdeckt. Die türkische Stadt Dalyan mit ihrer Kultur und den antiken Felsengräbern hatte es ihr angetan. Eine VHS-Künstlergruppe brachte sie immer wieder dorthin. „Ich konnte den Leuten immer genau sagen, was aktuell sehenswert ist“, sagt Shirley. Gleichzeitig engagierte sie sich mit Ökoinitiativen für den Erhalt der dort laichenden Karettschildkröten. Über ihr Reisebüro gewann sie auch in Stuttgart Unterstützer für das Projekt. Ein großer Hotelbau mitten im Laichgebiet der Wasserschildkröten wurde letztendlich verhindert.

Ob man „Smoke“ kenne, fragt Dieter Riedel. Das sei ein Film über einen kleinen Tabakladen an einer Straßenecke in Brooklyn. Dort träfen sich die Leute zufällig. Der Laden sei wie ein Magnet für Menschen, die kontaktfreudig seien und etwas zu erzählen hätten. „Ähnlich ging es bei uns früher zu.“ Alle redeten in der Mfz miteinander, manchmal auch durcheinander, ständig klingelten die Telefone. Die Mitarbeiter kritzelten Mitfahrwünsche eilig auf Zettel, fixierten die Fahrten an einer großen schwarzen Stecktafel und brachten so die Angebote und Nachfragen der Stuttgarter Roadtrip-Generation zueinander. Zwischendurch tranken sie im Reisebüro mit fabulierfreudigen Leuten aus dem Kiez oder Kunden einen Kaffee. Und fast jeder, der eine Weile hier drin war, ging mit einem Lächeln wieder raus.

Das Mfz-Modell boomte Anfang der 1980er Jahre. Es gab an die 35 Mitglieder im deutschen Mfz-Verband. Es brachte Leute mit und ohne Auto, die das gleiche Ziel hatten, zusammen. Der Stuttgarter Peter Rommel, der später nach Berlin ging und Filme wie „Halbe Treppe“, „Sommer vorm Balkon“ oder „Wolke 9“ produzierte, holte die Geschäftsidee gemeinsam mit Dieter und Shirley in den Stuttgarter Westen. In einer winzigen Büro-Butze an der Lerchenstraße startete das Projekt 1983. Wer damals noch ein paar Plätze in seiner Rostlaube frei hatte, der rief bei der Mfz an oder schlappte rein ins Büro. Es ging ein wenig zu wie auf einer Auktion. Mitfahrende zahlten eine kleine Vermittlungsgebühr und dem Fahrer den Sprit. Die Grundidee war: „Es ist doch besser, man nimmt als Kutscher zwei oder drei Leute in seinem Auto mit, senkt so den CO2-Ausstoß und spart dabei noch Geld“, sagen die Mfz-Macher. Doch irgendwann hatte jeder halt ein eigenes Auto. Der Markt war gesättigt. Außerdem verflüchtigte sich das Geschäft nach und nach ins Internet.

Shirley und Dieter sahen sich notgedrungen nach neuen Geschäftsfeldern um. Es begann so ums Jahr 1985 mit Billigflug-Angeboten. Sie gingen als „Graumarkttickets“ über den Mfz-Tresen. „Später haben wir in der Regel nur die Reisen angeboten, die wir selbst kannten.“ Einen Mann voller Traurigkeit, der in Scheidung lebte, schickten sie nach Havanna. Offenbar wirkte die Zeit auf Kuba wie eine Therapie: „Das war ein herrlicher Urlaub“, sagte er hinterher. Ein alleinstehender Steinmetz fand seine Liebe in Peru. Er rief von unterwegs aus an und verkündete: „Ich will heiraten. Könnt ihr für den Rückflug noch einen Platz dazubuchen?“ Kein Problem. Sie halfen gern, kümmerten sich fast familiär um ihre Reisekunden. Manchmal streckten sie auch das Geld für Flüge vor.

Und sie waren selbst Teil der Szene, die zu ihnen ins Reisebüro kam. Oft saßen Dieter und Shirley im Café Stella, gingen auf Konzerte, waren bei Partys und Kunstevents. Shirley hatte Kontakte zur Kunstszene und war schon in den 70er Jahren öfters in Achim Kubinskis Galerie in der Olgastraße 109 zu finden. Dieter interessierte sich für Lou Reed und Konzerte. Und er wurde manchmal selbst für einen Rockstar gehalten. So lief ihm Mitte der 1980er Jahre Nora Forster auf dem Weg ins Büro hinterher. Sie sah verdammt gut aus und war damals mit dem Ex-Sänger der Sex Pistols, Johnny Rotten (John Lydon), verheiratet. Im Büro angekommen, sagte sie zu Riedel: „Sie sehen aus wie Alan White, der Schlagzeuger von Yes.“

Forster arbeitete in den 1960er Jahren als Musikpromoterin in London, unter anderem für Jimi Hendrix, Wishbone Ash und Yes. Später förderte sie die Londoner Punkmusikszene. Forsters Vater war übrigens der Stuttgarter Franz Karl Maier, der direkt nach dem Zweiten Weltkrieg als Mitherausgeber und Lizenzträger der Stuttgarter Zeitung fungierte. Nora Forster war begeistert von Dieter und Shirley und lud ihre neuen Bekannten sofort zu sich nach Los Angeles ein. „Ihr müsst unbedingt kommen und Johnny kennenlernen“, sagte sie. Diese Reise hätte legendär sein können, fand aber nie statt: „Wir waren damals einfach zu schüchtern.“ Nora Forster ist im April dieses Jahres gestorben.

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Erstellt:
15. August 2023, 22:08 Uhr

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