Evergrande und Co.
Die Immobilienkrise in China spitzt sich zu
Das hoch verschuldete chinesische Immobilienunternehmen Evergrande hat in den USA Antrag auf Gläubigerschutz gestellt. Die einst boomende Branche funktionierte zuletzt nur mehr auf Pump.

© Ng Han Guan
Der Hauptsitz von Evergrande (li.) in Shenzhen, China
Von Fabian Kretschmer
Als auf Chinas sozialen Medien Scheidungsgerüchte über den 64-jährigen Evergrande-Gründer Xu Jiayin zirkulierten, stand für viele Branchenbeobachter bereits fest: Offenbar will einer der reichsten Unternehmer des Landes seine Vermögenswerte verstecken, um sie vor möglichen Konkursverwaltern zu schützen.
Kurz darauf berichtete die Nachrichtenagentur Bloomberg, dass Evergrande in den USA Gläubigerschutz nach Kapitel 15 beantragt hat. Danach können ausländische Firmen vor Klagen amerikanischer Gläubiger geschützt werden, während sie ihre Schulden im Ausland umstrukturieren. Insgesamt hat der Konzern mit Sitz im südchinesischen Shenzhen Verbindlichkeiten von 335 Milliarden US-Dollar (308 Milliarden Euro) angehäuft.
Der spektakuläre Fall von Evergrande, einst der zweitgrößte Bauentwickler Chinas, ist nur die jüngste in einer endlosen Reihe von Hiobsbotschaften, die derzeit an die Öffentlichkeit gelangen. Zuletzt ist auch der – noch vor wenigen Monaten als ökonomisch solide geltende – Bauentwickler Country Garden in die Negativschlagzeilen geraten.
Das Unternehmen musste Anfang des Monats zwei Zahlungsfristen für US-Dollar-Anleihen verstreichen lassen. Auch wenn es sich mit 22,5 Millionen Dollar um vergleichsweise geringe Beträge handelt, löste die Nachricht einen sofortigen Aktiensturz aus. Vergleicht man den aktuellen Kurs von Country Garden mit dem kurz vor der Pandemie, so sind die Papiere des Konzerns auf ein Zwanzigstel des damaligen Werts geschrumpft. Der Pessimismus der Anleger ist durchaus begründet: Sollte die Immobilienfirma ihre Schulden bis Anfang September nicht begleichen können, dann droht ihr eine schmerzliche Umstrukturierung.
Für unzählige chinesische Familien wäre dies ein harter Schicksalsschlag. Denn selbst konservativ kalkuliert dürften allein von Country Garden mindestens 150 000 Apartments, welche bereits gekauft wurden, vorerst nicht fertiggestellt werden. Dahinter stehen oft jahrzehntelang angehäufte Ersparnisse, die nun möglicherweise wertlos sind. Auch für die kommunistische Partei, die stark um soziale Stabilität bemüht ist, ist dies eine alarmierende Entwicklung.
Ob es sich in China bereits um eine klassische Immobilienblase handelt, darüber herrscht unter Experten zwar kein Konsens. Doch dass der kriselnde Markt das Potenzial hat, die gesamte Volkswirtschaft in die Tiefe zu stürzen, liegt auf der Hand: Der Bausektor mit seinen zugehörigen Industrien generiert rund 30 Prozent des chinesischen Bruttoinlandsprodukts. Allein die Privathaushalte haben bis zu drei Viertel ihrer Ersparnisse im Häusermarkt geparkt – oft aus Ermangelung alternativer Anlagemöglichkeiten.
Doch die einst boomende Branche funktionierte zuletzt nur mehr auf Pump. Viele der hoch verschuldeten Entwickler nahmen immer riskantere Kredite auf, um ihr Geschäft am Laufen zu halten. Im Sommer 2020, als sich die chinesische Volkswirtschaft gerade vom ersten Corona-Schock zu erholen begann, proklamierte Staatschef Xi Jinping in einer richtungsweisenden Rede, dass Immobilien als Wohnraum dienen sollten – und nicht als Spekulationsobjekte. Doch die beschlossene Verschärfung der Kreditvergabe löste in Windeseile einen Dominoeffekt aus, von dem sich die Branche bislang nicht erholen konnte: Etliche Bauentwickler gerieten in Zahlungsschwierigkeiten, weil sie bei den Banken keine weiteren Schulden mehr aufnehmen konnten.
Die Causa Evergrande wurde zum prominentesten Symbol für die chinesische Immobilienkrise. Bezeichnend ist, dass die Nachricht über den Antrag auf Gläubigerschutz im Reich der Mitte bis auf in einigen Beiträgen auf den sozialen Medien praktisch nicht durchgedrungen ist. Auch am Freitagmittag Ortszeit hatten die führenden Wirtschaftszeitungen nicht über den Fall berichtet. Ganz offensichtlich hatten die Zensoren einen Maulkorb verhängt – aus Angst, die Information könnte Unruhen innerhalb der Bevölkerung auslösen.