Gesundheitspolitik

Droht den Notfallpraxen der Kollaps?

Weil die Deutsche Rentenversicherung die Festanstellung von Ärzten im Bereitschaftsdienst fordert, soll die Versorgung von 1,3 Millionen Patienten allein in Baden-Württemberg gefährdet sein.

1700 Poolärzte kümmern sich aktuell in Baden-Württemberg abends, nachts und an den Wochenenden um die Patienten.

© Lichtgut/Max Kovalenko

1700 Poolärzte kümmern sich aktuell in Baden-Württemberg abends, nachts und an den Wochenenden um die Patienten.

Von Kai Holoch

Karsten Braun, der neue Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW), malt ein düsteres Bild: „Im Ergebnis wäre mit einem Kollaps des Bereitschaftsdienstes zu rechnen.“ Davon betroffen wären, so Braun, rund 1,3 Millionen Patienten allein in Baden-Württemberg, die jährlich in den Abend- und Nachtstunden sowie an den Wochenenden eine der 119 ambulanten Notfallpraxen im Land aufsuchen.

https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.unmut-in-der-aerzteschaft-gesucht-loesung-zum-wohl-der-patienten.d9f8a69e-d7fc-44e0-85d1-9d7a6a1699db.html

Was ist geschehen? Um den Patienten verlässliche Anlaufstellen und Öffnungszeiten bieten zu können, hat die KVBW 2014 zentrale Notfallpraxen eingerichtet. Dabei ist, das räumt die KVBW offen ein, grundsätzlich jeder niedergelassene Arzt gesetzlich zur Teilnahme verpflichtet. Wie oft das pro Jahr der Fall ist, unterscheidet sich von Bezirk zu Bezirk. „Aber in der Regel sollten es nicht mehr als sieben Dienste pro Jahr sein“, erklärt der KVBW-Sprecher Kai Sonntag.

Poolärzte übernehmen knapp die Hälfte der Dienste

Allerdings können sich die Ärzte vertreten lassen, wenn sie aus fachlichen oder persönlichen Gründen den allgemeinen Bereitschaftsdienst nicht durchführen können oder wollen. Damit sich diese Ärzte nicht selber einen Vertreter suchen müssen, hat die Kassenärztliche Vereinigung im Lauf der Jahre einen Pool an Ärzten aufgebaut, die einen Dienst übernehmen können. Darunter befinden sich Krankenhausärzte, Ärzte in Anstellung, Ärzte im Übergang zwischen Klinik und Niederlassung, Ärzte von der Bundeswehr, Ärzte, die schon im Ruhestand sind, oder Privatärzte.

Mittlerweile gibt es 1700 Poolärzte in Baden-Württemberg, die knapp die Hälfte aller Dienste in den Notfallpraxen abdecken. „Nur mit dem Poolarztsystem schaffen wir es, viele dringend benötigte Ärztinnen und Ärzte noch in der Regelversorgung zu halten. Das ist wichtig in den Zeiten allgemeinen Ärztemangels“, betont Karsten Braun die Position der KVBW.

Urteil des Bundessozialgerichts verändert die Rechtslage

Bisher basiert das System darauf, dass die Ärzte freiberuflich arbeiten und jeweils für ihre Dienste honoriert werden. Das könnte sich nun ändern. Denn die Deutsche Rentenversicherung (DRV) hat ihre bisherige Position, dass diese Freiberuflichkeit rechtlich in Ordnung ist, geändert: „Wir bewerten die Tätigkeit von Poolärzten jetzt als abhängige Beschäftigung“, heißt es auf die Anfrage unserer Zeitung bei der DRV. Die Änderung der Bewertungspraxis sei Folge eines Urteils des Bundessozialgerichts zu Honorarärzten aus dem Jahr 2019. Die DRV argumentiert, die KVBW organisiere und gebe den organisatorischen Rahmen in den Notfallpraxen vor: „Damit sind die Poolärzte bei ihrer Tätigkeit in die Betriebsorganisation der Kassenärztlichen Vereinigung eingegliedert, was eine Bewertung der Tätigkeit als abhängige Beschäftigung zur Folge hat.“

Eine solche Festanstellung hält Karsten Braun für kaum realisierbar: „Für die KVBW wäre es aus mehreren Gründen so gut wie ausgeschlossen, die bisher selbstständigen Poolärzte in Anstellungen zu übernehmen.“ Neben der Finanzierungsfrage gebe es auch organisatorische Probleme. Braun: „Alleine um einen einzigen Wochenendtag in Baden-Württemberg abzudecken, würden wir hochgerechnet mehrere Hundert Poolärzte benötigen, da dann ja auch Arbeitszeitbestimmungen für Angestellte einzuhalten wären. Eine solche Zahl an Ärzten stünde faktisch gar nicht zur Verfügung.“

Angestrebt wird Lösung wie im Rettungswesen

Allerdings sieht Braun eine andere Möglichkeit, um das Problem aus der Welt zu schaffen: „Unsere Poolärzte im ärztlichen Bereitschaftsdienst müssten genauso wie die Ärzte im Rettungsdienst von der Sozialversicherungspflicht befreit werden. Dort gibt es entsprechende Sonderregelungen bereits, um den Rettungsdienst funktionsfähig zu halten.“ Mit dieser Forderung stößt die KVBW in Berlin momentan aber auf taube Ohren. Während die DRV auf die rechtlichen Vorgaben verweist, lehnen die zuständigen Bundesministerien Brauns Wünsche ab.

Aus dem Bundesgesundheits- und dem Bundesarbeitsministerium heißt es, die Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung auch zu den sprechstundenfreien Zeiten sei „unbestritten eine wichtige Aufgabe“: „Allerdings ist eine Ausnahmeregelung von der Sozialversicherungspflicht für sogenannte Poolärzte, die am Bereitschaftsdienst teilnehmen, im Hinblick auf die Bedeutung der Sozialversicherungspflicht und die Finanzierung der Sozialversicherung allgemein nicht zielführend.“ Eine wesentliche Grundlage für einen funktionierenden Sozialstaat sei eine verlässliche Finanzierung aus Sozialbeiträgen und Steuermitteln. Ausnahmen gefährdeten eine solide und solidarische Finanzierung. Ein grundsätzlich bestehender Fachkräftemangel könne nicht durch Ausnahmeregelungen im Sozialversicherungsrecht behoben werden.

„Die Situation ist nicht vergleichbar“

Für nebenberuflich tätige Notärzte im Rettungsdienst habe der Gesetzgeber in der Tat eine Sonderregelung getroffen, um eine „flächendeckende notärztliche Versorgung und damit eine äußerst wichtige und dringliche Aufgabe im Interesse des Allgemeinwohls und zum Schutz von Leben und Gesundheit in Akutsituationen“ sicherzustellen. Die Situation und die Rechtslage beim ärztlichen Bereitschaftsdienst seien mit „dieser Situation aber nicht vergleichbar“.

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Erstellt:
19. Februar 2023, 12:26 Uhr
Aktualisiert:
19. Februar 2023, 16:03 Uhr

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