Ein wogendes Meer aus Weiß und Rot

Vor dem ersten Heimspiel des VfB Stuttgart gegen den VfL Bochum sind wieder Tausende Fans in Richtung Stadion gepilgert. Seit 2006 ist die Fan-Karawane beständig größer geworden und hat längst Kultstatus erreicht.

Tausende Fans zogen vor dem Spiel gegen Bochum in der Karawane von Cannstatt zum Stadion.

© Lichtgut/Julian Rettig

Tausende Fans zogen vor dem Spiel gegen Bochum in der Karawane von Cannstatt zum Stadion.

Von Georg Friedel

Stuttgart - Diese Pilgertour durch Cannstatt dient weder der inneren Einkehr noch der Stille. Sie ist glatt das Gegenteil davon. Ein echter Sturm ist da im Anmarsch. Am Cannstatter Carré und auf dem dortigen Kreisverkehr an der Deckerstraße versammelten sich am Samstag gegen 13 Uhr die VfB-Fans vor dem Heimspielauftakt in der Bundesliga gegen den VfL Bochum. Und es wurden mehr und mehr. Schon Tage zuvor wurde in einem kurzen Commando-Cannstatt-Trailer für die Karawane geworben.

Mit Bässen, Metal-Sound und dem Motto „Alle in Weiß“ stimmten die Organisatoren die große VfB-Fanfamilie auf diese ganz spezielle Prozession zum Hochamt der Bundesliga auf dem heiligen Rasen von Cannstatt ein. Gegen 13.30 Uhr ging’s am Deckerkreisel los. Zu lautem Geklatsche und noch lauteren Trommelschlägen ging es mit „1893“-Rufen hinein in die Bahnunterführung. Vorneweg die Fahne: „Für immer Neckarstadion.“ Bereits zu Beginn lösten sich die ersten pyrotechnischen Mitbringsel einiger Fans in Rauch auf. Bengalos und Rauchtöpfe riefen dicke rote, weiße und schwarze Schwaden hervor – obwohl im Vorfeld gebeten wurde, dies zu unterlassen.

Durch die Daimlerstraße bewegte sich der mehrere Hundert Meter lange Zug dann in Richtung Mercedesstraße. An der Einmündung hatten die Feuerwehrleute der Feuerwache 3 Bad Cannstatt eine riesige VfB-Flagge gehisst und schauten von ihrem Gelände aus der Karawane zu. Auf Höhe der Hanns-Martin-Schleyer-Halle ging das vom Commando Cannstatt organisierte Spektakel dann in seine finale Phase. Ein verbaler Einpeitscher stand auf der Fußgängerbrücke und gab mit dem Megafon Ton und Takt vor. Die Menge schrie im Chor zurück. In den vordersten Fan-Reihen wurden die Arme gegenseitig um die Schultern gelegt und die Reihen geschlossen. Und dann hüpften sie los, bis der Asphalt unter ihren Füßen bebte. Ein wogendes Meer aus Weiß und Rot. In der Mitte der Masse blieb eine Gasse frei. Auf Kommando sprangen sie bei Temperaturen über 30 Grad wie Flummi-Bälle aufeinander zu und ballten sich für kurze Zeit im wilden Pogo-Fieber zu einem großen vibrierenden Menschenknäuel zusammen. „Die Karawane gehört einfach zum Saisonstart dazu“, sagen viele, die am Cannstatter Carré bereits vor 13 Uhr am Start waren.

Etwa ein Dutzend VfB-Fans aus Ellwangen, die selbst in der Kreisliga A kicken, hatten sich bei der Hitze nach Stuttgart aufgemacht und sich zunächst in den Schatten eines Hausflurs geflüchtet. Aber hitzefrei gibt es heute nicht. Alle sind sich einig: Die Aktion stärke das Gemeinschaftsgefühl: „Die Karawane gehört jetzt schon zur VfB-Tradition“, findet der 26-jährige Kevin Bittenbinder aus der Ellwanger Fangruppe. Im Jahr 2006 sei zum ersten Mal zu einer Fan-Karawane aufgerufen worden, erinnert sich ein anderer VfB-Fan, der damals als 18-Jähriger bei der Premiere dabei war: „Damals waren wir nur ein paar Hundert Leute. Der Weg führte quer über den Cannstatter Wasen, also auf einer anderen Route als heute“, so seine Erinnerung.

Vorbilder seien die niederländischen Fans gewesen, die bei der WM 2006 in Stuttgart diese Tradition begründet hätten. Die Holländer zogen damals gemeinsam ins Stadion. Von dem Gute-Laune-Ritual der Oranje-Fans ließen sich die Stuttgarter anstecken. „Die erste Cannstatter Karawane startete jedenfalls im August 2006 vor dem damaligen Heimspiel gegen Nürnberg“, erinnert sich VfB-Fan Daniel Gläßer. „Und in dieser Saison wurden wir dann ja auch Deutscher Meister.“

Lang, lang ist das her. Damals sei auch südamerikanisches Flair in die Wechselgesänge der VfB-Ultras eingezogen: Das „Olé, olé, olé – olé, olé, Ola – wir sind immer für euch da“, sei aus der argentinischen Fanszene übernommen worden. „Inzwischen ist das ja ein absoluter Cannstatter Kurvenklassiker“, sagt Gläßer. Früher sei „der Support“ stark aufs Stadion beschränkt gewesen. Auch das habe sich geändert: „Ein wichtiges Merkmal der Ultra-Bewegung ist, dass du stets deine Farben repräsentierst.“ Und im Gegensatz zu einigen anderen Fußball-Ultra-Gruppen trete man in Stuttgart auch nicht so martialisch auf. „Ich habe die Karawane jedenfalls stets so empfunden, dass es eine Einladung an die ganze VfB-Familie ist“, meint Gläßer.

Und tatsächlich werde diese Einladung von immer mehr Anhängern der Weiß-Roten angenommen. Laut der Polizeipressestelle Stuttgart waren schätzungsweise rund 5000 Fans in der Karawane unterwegs. Vorfälle gab es keine.

Und im Stadion setzte sich die gute Stimmung fort. Der VfB ließ dem VfL Bochum keine Chancen, siegte zum Auftakt mit 5:0 und war damit Spitzenreiter.

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Erstellt:
20. August 2023, 22:04 Uhr

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