Regierungsbildung in Frankreich
Fragliche Halbwertszeit von Frankreichs neuem Premier
Mit dem Konservativen Michel Barnier bekommt Frankreich nach 50 Tagen ohne Regierung einen Premier. Die Linke vermutet dahinter das Diktat Le Pens.
Von Stefan Brändle
Am Mittwochabend hatten sich Präsident Emmanuel Macron und Michel Barnier zu einem trauten Nachtessen im Elysée-Palast getroffen. Stunden später galt der 73-jährige Konservative aus der Alpenregion Savoyen als gesetzt für den Premierposten. Zuvor hatte Macron vier andere Optionen mittels gezielter Indiskretionen getestet und dann verworfen: den Sozialdemokraten Bernard Cazeneuve, den Sozialaktivisten Thierry Beaudet sowie die Konservativen David Lisnard und Xavier Bertrand.
Barnier ist insofern nur fünfte Wahl. Macron griff auf ihn zurück, weil er als erfahrener, wenig profilierter Konsenspolitiker gilt. Als solcher hat er bessere Überlebenschancen als die übrigen Premierkandidaten. Die Rechtspopulisten des Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen hatten offen gedroht, die Favoriten Cazeneuve und Bertrand in der Vertrauensabstimmung der Nationalversammlung zu Fall zu bringen. Dieser Regierungssturz wäre auf Macron zurückgefallen, der seit der verpatzten Ansetzung von Neuwahlen sehr geschwächt ist.
Höchst abschätziger Kommentar
Barnier soll etwas Ruhe in den geradezu hysterischen Politbetrieb Frankreichs bringen. Der hochgewachsene Gentleman-Rentner alter Schule wird in Paris gerne als „der französische Joe Biden“ bezeichnet. Er hatte 1992 die olympischen Winterspiele von Albertville ausgerichtet und übte seither zahllose Ministerposten unter Präsident Jacques Chirac sowie in der EU-Kommission aus, zuletzt als Brexit-Chefunterhändler. Der RN-Politiker Tanguy nannte Barnier am Donnerstag ein „Fossil“ und sehr abschätzig „einen der dümmsten Politiker der Fünften Republik, der abgesehen von seinen Notizzetteln nichts versteht“.
Immerhin gibt Le Pen Barnier eine Chance: Wenn er in seiner Regierungserklärung vor dem Parlament auf die Ideen des RN eingehe, werde es ihm das Vertrauen aussprechen, erklärte die RN-Gründerin am Donnerstag. Diese Ankündigung brachte die Linksopposition vollends auf die Palme. Der Chef der linksradikalen Unbeugsamen, Jean-Luc Mélenchon, wirft Macron vor, er „stehle“ der in den Juli-Wahlen siegreichen Neuen Volksfront den Premierposten. Statt die linke Premier-Kandidatin Lucie Castets zu ernennen, liefere er sich dem Wohlwollen der Lepenisten aus. Wenn Barnier keine knallharte Immigrationspolitik ankündigen werde, müsse er gleich seinen Hut nehmen.
Dazu könnte ihn aber auch die Linke zwingen: Die Volksfront will dem neuen Premier das Vertrauen im Parlament verweigern. Die Unbeugsamen rufen für Samstag zu einer Großkundgebung in Paris auf, um gegen die ihrer Meinung „undemokratische“ Regierungsbildung zu protestieren. Mit einigen Grünen haben sie zudem am Mittwoch ein Impeachment-Verfahren gegen Macron eingeleitet. Es hat arithmetisch nicht viel Chancen, zeigt aber, wie sehr die Autorität des Präsidenten gelitten hat.
Wird Macron bis zum Ende seines Mandats durchstehen?
Dazu trägt auch der frühere Macron-Premier Edouard Philippe bei. Der laut Umfragen sehr beliebte führende Mitterechts-Politiker hat diese Woche seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2027 angekündigt. Ausdrücklich will er auch im Fall vorgezogener Präsidentschaftswahlen antreten. Falls Macron vor seinem Mandatsende abtreten müsste.
Dass die Gegner des Staatschefs und auch die Medien bereits „das Ende des Macronismus“ ausrufen, ist das eine. Mit Philippe sägt nun aber auch ein ehemaliger Vertrauter an seinem Thron. Und seine Partei „Horizons“ ist oder war eine wichtige Komponente des Macron’schen Mittelagers.
Barnier Nominierung dürfte deshalb im Elysée nur kurz für Entspannung sorgen. Fraglich ist, wie der neue Premier eine tragfähige Regierung bilden will, die in der Nationalversammlung keine Mehrheit hat. Unklar ist auch, ob Macron die drei Jahre bis zum Ende seines zweiten Fünfjahresmandates überhaupt durchstehen kann.