Meinungsfreiheit

Gefährliche Straßenumfragen in der Türkei

Weil traditionelle Medien in der Türkei stark kontrolliert werden, sind Straßenumfragen beliebt beim Publikum. Einer Frau wurde ihr Beitrag zum Verhängnis.

Recep Tayyip Erdogan regiert die Türkei mit harter Hand.

© AFP/ADEM ALTAN

Recep Tayyip Erdogan regiert die Türkei mit harter Hand.

Von Susanne Güsten

Straßenumfragen sind beliebt in der Türkei. Hunderttausendfach werden in den sozialen Medien die Videos geklickt, in denen sich Passanten zu Themen des Tages äußern. Sie sind erfolgreich, weil die traditionellen Medien in der Türkei überwiegend von der Regierung kontrolliert werden und nur noch deren Weltsicht wiedergeben. Bei den Umfragen lassen manche Türken richtig Dampf ab und ernten viel Zustimmung auf YouTube und anderen Kanälen.

Doch auch die Justiz schaut zu. Ein Gericht im westtürkischen Izmir verurteilte am Dienstag eine 34-jährige Frau, weil sie Präsident Recep Tayyip Erdogan und dessen Wähler vor laufender Kamera kritisiert hatte.

Als die türkische Regierung kürzlich Instagram zeitweise sperren ließ, befragte ein YouTube-Reporter in der Oppositionshochburg Izmir dazu Passanten. Eine Frau namens Dilruba Kayserilioglu äußerte ihre Meinung und schimpfte über Erdogans Präsidialsystem, das nach einem Referendum vor sieben Jahren eingeführt wurde und dem Mann an der Spitze des Staates weitreichende Machtbefugnisse einräumt.

„Ihr seid alle hirnverbrannte Idioten!“

„Wenn wir unsere parlamentarische Demokratie aufgeben und die Republik einem einzigen Mann in die Hand geben, dann ist ja wohl klar, dass der damit umspringt wie mit seinem eigenen Hinterhof“, sagte Kayserilioglu. „Zack, über Nacht sperrt er Instagram, so wie er über Nacht die Frauenschutzkonvention kündigt oder Straßentiere abschlachten lässt. Das ist ein Putsch!“

Und noch eines wolle sie sagen, fügte die 34-Jährige hinzu: „Und zwar an die Leute gerichtet, die diesen Mann unterstützen: Ihr seid Idioten, dass ihr alle eure Freiheiten einem einzigen Mann ausliefert. Ihr seid alle hirnverbrannte Idioten!“

Das solle er alles senden und keinesfalls schneiden, wies Kayserilioglu den Reporter an. Vier Tage später wurde sie verhaftet, weitere zwei Tage später erhob die Staatsanwaltschaft schon Anklage wegen Volksverhetzung und Präsidentenbeleidigung.

„Ein Versuch, andere zum Schweigen zu bringen“

Der Türkei-Experte Howard Eissenstat von der Universität St. Lawrence in den USA sieht eine Strategie der Regierung hinter dem Fall. Die Behörden ließen hin und wieder Bürger willkürlich wegen Meinungsäußerungen festnehmen, um die ganze Gesellschaft zu disziplinieren, sagte Eissenstat unserer Zeitung. Niemand wisse genau, wann es wen treffen könne: „Hier geht es weniger um das, was Kayserilioglu gesagt hat, als um den Versuch, andere zum Schweigen zu bringen.“

Keine vier Wochen nach dem Straßeninterview stand Kayserilioglu am Dienstag vor dem Richter, der auch gleich das Urteil verkündete: siebeneinhalb Monate auf Bewährung. Rekordverdächtig schnell sei das, sagt Kayserilioglus Anwalt Hüseyin Yildiz. An seiner Mandantin solle offenbar ein Exempel statuiert werden.

Keinen journalistischen Regeln verpflichtet

Auch die Rundfunkaufsichtsbehörde RTÜK sei mitverantwortlich, meint der Anwalt. RTÜK-Chef Ebubekir Sahin hatte kurz vor Kayserilioglus Wutausbruch erklärt, die Straßeninterviews hätten „eine Qualität erreicht, die mit ihrer manipulativen Art allen journalistischen und presse-ethischen Werten widerspricht“. RTÜK arbeitet nach Sahins Worten an neuen Regeln, die YouTube-Reporter verpflichten sollen, zur Ausstrahlung von Straßenumfragen eine Zulassung bei der Behörde zu beantragen. Die Aufpasser bei RTÜK handeln häufig im Sinne der Regierung, aber auch unabhängige Forscher sehen Gefahren in den Umfragen der Amateur-Reporter, die keinen journalistischen Regeln verpflichtet sind. So sollen Videos mit Straßenumfragen über syrische Flüchtlinge als Zünder für ausländerfeindliche Krawalle gedient haben.

Erdogans politische Gegner solidarisierten sich mit Kayserilioglu. Oppositionsführer Özgür Özel besuchte die Angeklagte im Gefängnis. Wenige Stunden später wurde Kayserilioglu nach dreiwöchiger Untersuchungshaft aus dem Gefängnis entlassen. Auch ließ die Staatsanwaltschaft den Vorwurf der Präsidentenbeleidigung fallen. Am Tatvorwurf der Volksverhetzung hielt sie dagegen fest.

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Erstellt:
3. September 2024, 15:28 Uhr

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