Erdbeben in der Türkei
Leben in Trümmern
Vor einem halben Jahr ist die Grenzregion zwischen der Türkei und Syrien von einem schweren Erdbeben erschüttert worden. Im Unglücksgebiet ist selbst das Notwendigste noch knapp. Sie hätten jede Hoffnung verloren, sagen die Menschen.

© dpa/Bradley Secker
Trümmer liegen in der Altstadt von Antakya, wo das Erdbeben vor fast sechs Monaten schwere Schäden anrichtete
Von Susanne Güsten
Wenn in der türkischen Provinz Hatay zwischen den Trümmern zerstörter Häuser ein Lastwagen mit Trinkwasser auftaucht, bilden sich sofort lange Warteschlangen. „Erst gestern habe ich einen Lkw gesehen, vor dem tausend Leute anstanden“, sagt der Arzt Sevdar Yilmaz. „Wir verlieren inzwischen die Hoffnung.“
Am 6. Februar stürzten zwei mächtige Erdstöße die rund 14 Millionen Bewohner einer Region von Adana am Mittelmeer bis ins 500 Kilometer weiter östlich gelegene Diyarbakir ins Unglück. Einer ersten Erschütterung um 4 Uhr morgens mit der Stärke 7,8 folgte kurz nach Mittag ein weiterer Schlag der Stärke 7,7. Rund 52 000 Menschen starben, 800 000 Gebäude stürzten ein oder sind wegen schwerer Schäden unbewohnbar. Elf der 81 Provinzen der Türkei waren betroffen. Millionen Menschen wurden obdachlos und mussten in Zelten untergebracht werden. Die Provinz Hatay gehörte zu den am schwersten getroffenen Gebieten. In Syrien kamen mehr als 8000 Menschen ums Leben.
Die Menschen sehen kaum Fortschritte
Die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan reagierte zunächst planlos und langsam. Einige Staatsvertreter gerieten darüber hinaus in den Verdacht, sich bereichern zu wollen: Der Chef des türkischen Roten Halbmonds, Kerem Kinik, ließ Zelte an eine private Hilfsorganisation verkaufen, statt sie gratis an die Erdbebenopfer zu verteilen. Kinik wies alle Vorwürfe zurück, musste im Mai aber zurücktreten.
Inzwischen sind die Zeltstädte vielerorts festeren Containerunterkünften gewichen. Die Zahl der Menschen, die in Zelten leben müssen, ist nach Angaben des Innenministeriums von 2,6 Millionen im April auf 32 000 im Juni gesunken. Erdogan verspricht den Wiederaufbau der Region in Rekordzeit. Allein in Hatay läuft nach Behördenangaben der Bau von 31 000 Wohnungen. Insgesamt sollen 650 000 Gebäude im Katastrophengebiet neu gebaut werden, die Hälfte davon innerhalb eines Jahres.
Doch in schwer getroffenen Gegenden wie der Provinz Hatay sehen die Menschen kaum Fortschritte. In der Provinzhauptstadt Antakya, dem biblischen Antiochien, sind acht von zehn Wohnhäusern nicht mehr bewohnbar. In den Wochen nach dem Februar-Beben verließ jeder zweite der rund 200 000 Bewohner die Stadt.
Schon vor dem Beben war die Wasserqualität schlecht
Bis heute konnte in Antakya keine stabile Trinkwasserversorgung für die verbliebenen Einwohner aufgebaut werden, wie Sevdar Yilmaz kritisiert. Als Vorsitzender der Ärztekammer in Hatay erlebt er in der Sommerhitze mit 40 Grad Celsius derzeit einen steilen Anstieg von Durchfallerkrankungen: eine Folge mangelnder Hygiene wegen des Wassermangels, wie er unserer Zeitung sagte. „Manche fallen in Ohnmacht, weil sie nicht genug trinken.“
Schon vor dem Beben hätten die Leute das Leitungswasser in Antakya vor dem Trinken filtern müssen – seit der Katastrophe sei es völlig ungenießbar, sagt Yilmaz. Auch Wasser für Dusche und Toilette fehlt häufig, denn an manchen Tagen kommt überhaupt nichts aus dem Hahn. „Die Menschen werden deshalb per Lastwagen mit Trinkwasser in Plastikflaschen versorgt“, sagt Yilmaz. „Aber manchmal kommt eben kein Lastwagen, das geht dauernd so. Und wenn man etwas bekommt, reicht es nur für ein paar Tage.“ Die Kapazitäten der Katastrophenschutzbehörde Afad, die das Wasser gratis verteilt, reichten nicht aus. „Wo hundert Lastwagen gebraucht würden, gibt es nur zehn. Außerdem gibt es wegen der vielen Plastikflaschen viel mehr Müll als vorher.“
Wer bei der Wasserausgabe zu kurz kommt, kann zwar Wasser in Läden kaufen. Aber das ist für viele Familien, die mit dem staatlichen Mindestlohn von 385 Euro im Monat auskommen müssen, sehr teuer, sagt Yilmaz. Die Stadtverwaltung hat kein Geld, um zerstörte Trinkwasserleitungen zu reparieren, und von der Zentralregierung in Ankara kommt längst nicht so viel an Unterstützung an, wie gebraucht würde: Der wirtschaftliche Gesamtschaden des Erdbebens beläuft sich auf mehr als 100 Milliarden Dollar.
Trinkwassermangel nicht das einzige Problem
Der Trinkwassermangel ist nicht das einzige lebensgefährliche Alltagsproblem in Hatay. Wie die Zeitung „Cumhuriyet“ berichtete, werden beim Abriss beschädigter Gebäude häufig Stromleitungen zerstört, sodass in den betroffenen Stadtvierteln stundenlang der Strom ausfällt. Bewohner von Notunterkünften in Hatay berichten von Skorpionen und Schlangen in ihren Behausungen. Mehr als eine Erstversorgung von Kranken oder Verletzten sei in Hatay derzeit nicht drin, weil die meisten Krankenhäuser wegen Erdbebenschäden geschlossen seien, sagt Ärztekammer-Chef Yilmaz. „Bei schweren Fällen schicken wir die Patienten per Krankenwagen ins nächste funktionierende Krankenhaus – das sind mindestens zwei Stunden Fahrt, dabei geht es in manchen Fällen um Minuten.“
Zudem bebt die Erde in der Gegend weiter. Zwei Wochen nach dem Februar-Beben wurde Hatay von einem Erdstoß der Stärke 6,4 erschüttert, vor einigen Tagen wurde ein Beben von 3,7 gemessen. „Wir wissen nicht, was in ein paar Monaten sein wird“, sagt der Arzt Yilmaz, der sein ganzes Leben in Hatay verbracht hat. „Wir wollen in die Zukunft blicken, aber wir sehen keine Zukunft.“