Leitartikel: Das Loslassen ist gar nicht so wichtig

Die Weiterentwicklung von Assistenzsystemen ist sinnvoller als der Traum vom fremdgesteuerten Auto.

Von Eidos Import

Auf einer Liste unvergesslicher Kindheitsmomente darf das nicht fehlen: dieses Gefühl, wenn man zum ersten Mal den Mut findet, während der Fahrradfahrt beide Hände vom Lenker zu nehmen und gen Himmel zu heben. Diese Erinnerung lässt sich ja auch auf das Auto übertragen. Gibt es doch immer größere Fortschritte, was das autonome Fahren betrifft. Ob es in diesem Fall allerdings auch das große Glück verspricht, das Lenkrad komplett aus der Hand zu geben, darf bezweifelt werden.

Obwohl doch die Science-Fiction-hafte Vorstellung von der neuen Autowelt faszinierend ist. Wenn es gar keine Fahrerinnen oder Fahrer gibt, sondern nur noch Passagiere. Immer näher sind die Entwickler der Autokonzerne und ihre Zulieferer dieser Vision zuletzt gekommen. Und dennoch: Derart fremdgesteuert wird die Realität auf absehbare Zeit nicht aussehen, trotz der enormen Fortschritte auf dem autonomen Feld.

Es erscheint derzeit nämlich deutlich sinnvoller, wenn die Automobilwirtschaft vor allem in die Weiterentwicklung der Assistenzsysteme investiert, anstatt dem Traum vom komplett selbstständig fahrenden Pkw zu lange nachzuhängen. Es gibt keine Garantie dafür, dass dieser jemals in Erfüllung geht. Das ist auch gar nicht zwingend notwendig. Immer besser ausgereifte Assistenzsysteme, die für immer mehr Sicherheit, Komfort und Möglichkeiten für die teilautomatisierte Privatfahrt sorgen, sind die Zukunft, auch wenn die schon lange begonnen hat. Bei neuen Autos gehört schließlich automatisches Spur- und Abstandhalten genauso zum Standardrepertoire wie ein automatisches Notbremssystem.

Der komplett selbstständigen Pkw-Fahrt scheinen dagegen Grenzen gesetzt zu sein. Die Künstliche Intelligenz wird dem Stadtverkehr in Rom, Mexiko City, Mumbai oder Sao Paulo vermutlich niemals ganz gewachsen sein. Wie sollen im Mischverkehr Millionen von Unwägbarkeiten auf logischem Weg erfasst werden?

Aber auch dort, wo der Verkehr in weitaus geordneteren Bahnen verläuft, sind Einschränkungen unabdingbar. Das System Driving Pilot von Mercedes-Benz, seit letztem Jahr in der S-Klasse am Start, ist derzeit das Maß aller selbstfahrenden Dinge. Es ist das erste zugelassene Level-3-Instrument, das allerdings nur im stockenden Autobahnverkehr bis zu einer Geschwindigkeit von 60 Stundenkilometer den Fahrer komplett ersetzen darf. Bei einem Unfall haftet in diesem Fall der Hersteller.

Es sind auch juristische Gründe, die dem auf die Spitze getriebenen voll automatisierten und autonomen Fahren (Level 4 und Level 5) im Weg stehen. Hersteller werden sich genau überlegen müssen, die Haftung im hochkomplexen Stadtverkehr zu übernehmen. Dabei schwingt zum Beispiel auch die fast unlösbare ethische Frage mit, ob man mit einem automatischen Ausweichmanöver die Gesundheit Dritter gefährden darf und ob es überhaupt zu einem computergesteuerten Abwägungsprozess kommen darf.

In einem überschaubaren und klar definierten Umfeld wird das autonome Fahren seinen Siegeszug dagegen fortsetzen. Bei den Nutzfahrzeugen. In Rotterdam befördert ein fahrerloser Shuttlebus auf einer nur von ihm befahrenen Spur schon jetzt Passagiere durch die Gegend.

Am Ende entscheidet vor allem der Kunde, wie weit das autonome Fahren von der Wirtschaft vorangebracht werden soll. Derzeit hinkt die Akzeptanz noch weit hinter der Entwicklung her, speziell in Deutschland. Dort sprechen sich aktuellen Meinungsumfragen zufolge 45 Prozent der Befragten prinzipiell gegen die Weiterentwicklung des autonomen Fahrens aus. So viel wie nirgends sonst auf der Welt.

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Erstellt:
18. Juli 2023, 22:10 Uhr

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