Leitartikel: Der große Boom als Gefahr

Durch die WM wird der Frauenfußball noch populärer werden. Das ist Segen und Fluch zugleich.

Von Gregor Preiß

Stuttgart - Wer erinnert sich noch an die Pferdeschwänze? An jene provokanten Videoclips von Alexandra Popp vor der WM in Frankreich: „Wir brauchen keine Eier, wir haben Pferdeschwänze“, witzelte die Nationalspielerin im Bestreben um mehr Aufmerksamkeit. Das ist gerade vier Jahre her. Vor den an diesem Freitag beginnenden Titelkämpfen in Australien und Neuseeland hat der Frauenfußball kindliche PR längst nicht mehr nötig.

Es hat sich viel verändert. Dabei muss man gar nicht bis 1989 und der legendären EM-Prämie mit dem Kaffeeservice zurückgehen. In den vergangenen vier Jahren wurde nachgeholt, was gefühlt 40 Jahre lang versäumt wurde. Der Frauenfußball ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Mädchen kicken vielerorts so selbstverständlich in Vereinen, wie sie zum Turnen oder Ballett gehen. Das deutsche EM-Finale gegen England war 2022 das meistgesehene Sportereignis Deutschlands. Der Besucherschnitt in der Bundesliga hat sich verdreifacht. Der „Kicker“ bringt erstmals ein WM-Sonderheft heraus, und auch das Panini-Sammelalbum darf nicht fehlen.

Frauen-Fußball boomt, in Deutschland und weltweit. Das zeigt auch der Blick aufs Geld. Gegenüber der letzten WM hat der Fußball-Weltverband Fifa die Prämien auf 134 Millionen Euro verdreifacht. Erstmals wird das Gros direkt an die Spielerinnen ausgeschüttet. Und um den letzten Quervergleichen mit den Männern den Garaus zu machen, wird für die Turniere 2026 bei den Männern und 2027 den Frauen (mit Bewerber Deutschland) Equal Pay gelten. Erstmals sollen die Stars der Szene, egal ob Männlein oder Weiblein, gleich viel vom reichhaltigen Buffet des Weltverbandes abgreifen.

Schöne neue Fußballwelt? Nun mag es noch immer Ultra-Traditionalisten geben, die all dem nichts abgewinnen können und die Frauen im Stadion noch immer am liebsten hinter dem Zapfhahn sehen. Doch für weite Teile der Gesellschaft taugt der Frauenfußball inzwischen wie kaum etwas anderes als Symbol für Gleichberechtigung.

Der Feldzug von US-Star Megan Rapinoe gegen Diskriminierung und Ungleichbehandlung, mit dem sie vor vier Jahren sogar Donald Trump die Stirn bot, findet seine Fortsetzung durch den offenen Umgang mit gleichgeschlechtlicher Liebe zahlreicher Stars wie Nationalspielerin Lena Oberdorf. Der erste und letzte männliche deutsche Fußballer, der sich als homosexuell outete, war ein gewisser Thomas Hitzlsperger.

Klare Prognose: Der Frauenfußball wird dem männlichen Pendant in naher Zukunft einiges an Wasser abgraben. Zugleich läuft er Gefahr, dieselben Fehler zu begehen. Fifa-Präsident Gianni Infantino kann es schon jetzt nicht schnell genug gehen. Die neunte WM der Frauen wird erstmals mit 32 Teams gespielt, das 48er Feld wird nicht lange auf sich warten lassen. In der Liga werden einstige Hochburgen wie Turbine Potsdam von den großen Männerclubs verdrängt. Es dominieren der FC Bayern und der VfL Wolfsburg. Für ein Interview vor der WM gewährte der DFB Journalisten ein Zeitfenster von zehn Minuten. Auch das ein Muster aus der Männerwelt. Tendenzen, die einem bekannt vorkommen und die nichts Gutes verheißen.

Als größtes differenzierendes Element im Vergleich zu den häufig als abgehoben wahrgenommenen Ronaldos dieser Fußballwelt gilt den Frauen ihr sympathisches und faires Auftreten. Ihre Nahbarkeit, die sich auf Dauer aber nur schwerlich mit der selbst herbeigesehnten Expansion ihres Sports in Einklang bringen dürfte. „Wir sind sehr authentisch unterwegs, und ich hoffe, dass das so bleibt“, sagte Alexandra Popp dieser Tage. Ein wünschenswertes Anliegen – für den Frauenfußball insgesamt.

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Erstellt:
19. Juli 2023, 22:10 Uhr

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