Leitartikel: Deutschland kommt nicht in Schwung

Flaute in der Wirtschaft, rote Laterne beim IWF. Wird Deutschland erneut der „kranke Mann Europas“?

Von Hannes Breustedt

Frankfurt - Überall Wachstum, nur in Deutschland nicht. Die größte Volkswirtschaft der Eurozone hat sich in bemerkenswert kurzer Zeit vom Konjunkturtreiber zum Bremsklotz für den Währungsraum entwickelt – ausgerechnet in einer kritischen Phase, in der umstrittene politische Großprojekte wie die Energiewende Rückenwind gebrauchen könnten. Zwar hat Deutschland seine technische Rezession im zweiten Quartal zunächst überwunden, doch die wirtschaftliche Entwicklung trat mit Nullwachstum auf der Stelle. Und mit größeren konjunkturellen Impulsen ist vorerst kaum zu rechnen.

Firmen und Verbrauchern setzen die hohe Inflation und steigende Kreditzinsen im Zuge einer strafferen Geldpolitik zu. Das verarbeitende Gewerbe ächzt unter Auftragsschwund. Der wichtige Außenhandelspartner China kann diesmal kaum helfen, er soll aus geopolitischen Gründen an Einfluss verlieren und tut sich nach jahrelangem Turbowachstum auf Pump inzwischen selbst schwer. Auch die Marke „made in Germany“ zieht längst nicht mehr wie früher, die Zeiten der deutschen Exportweltmeisterschaften liegen mittlerweile viele Jahre zurück.

Der Internationale Währungsfonds (IWF) stutzte diese Woche seine Konjunkturprognose für Deutschland weiter zusammen und rechnet nun mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung um 0,3 Prozent in diesem Jahr. Damit ist die Bundesrepublik bei den Projektionen des IWF das Schlusslicht – für kein anderes Industrieland erwartet der Fonds eine Schrumpfung. Zum Vergleich: Selbst Großbritannien, dessen Wirtschaft an den Brexit-Folgen laboriert, darf mit leichtem Wachstum rechnen. Für Russland, das wegen des Kriegs gegen die Ukraine mit westlichen Sanktionen belegt ist, stellt der IWF ein Plus von 1,5 Prozent in Aussicht.

„Die Lage der deutschen Wirtschaft verdüstert sich“, bilanzierte das Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung die erneute Eintrübung seines Geschäftsklimaindex. Bisher war der Abschwung relativ mild und galt vor allem als technisch bedingt. Doch nun mehren sich die Anzeichen, dass es sich um eine längere Durststrecke handeln könnte. In den Chefetagen der Firmen fallen sowohl die Lageeinschätzung als auch der Ausblick trüb aus. Vor allem im verarbeitenden Gewerbe ist die Stimmung schlecht. So fiel der Einkaufsmanagerindex für die Industrie im Juli auf das tiefste Niveau seit 38 Monaten. Wie ist Deutschland so ins Hintertreffen geraten? Natürlich gab es große Belastungen – Coronapandemie, Ukraine-Krieg, globale Lieferkettenprobleme und Energiekrise, um nur einige zu nennen. Doch die Probleme reichen weiter. „Die deutsche Volkswirtschaft ist dabei, erneut zum kranken Mann Europas zu werden“, sagte der Ex-Vorsitzende des Rats der Wirtschaftsweisen, Bert Rürup, bereits im Juni. Deutschland sei mittlerweile für Firmen ein Hochsteuerland. Zudem seien große Teile der Infrastruktur marode, die Bevölkerung stehe vor einem markanten Altersschub, und die Energiewende binde Ressourcen, ohne dass dadurch Kapazitäten entstünden und Wohlstand generiert werde.

Bei der Bewältigung der Coronakrise noch von Fachleuten als Vorbild gepriesen, ist Deutschland inzwischen klar auf dem absteigenden Ast. In den Top 50 der wertvollsten Aktiengesellschaften der Welt findet sich derzeit kein deutsches Unternehmen. Der US-Elektroautobauer Tesla wird an der Börse höher gehandelt als alle deutschen Autokonzerne zusammen. Laut Stefan Schneider, dem Deutschland-Chefvolkswirt der Deutschen Bank, hat das Land auch als Wirtschaftsstandort stark an Attraktivität eingebüßt. Die Entwicklung der Investitionen aus dem Ausland sei ein „Alarmsignal im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit“.

Zum Artikel

Erstellt:
28. Juli 2023, 22:06 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen