Leitartikel: Ein Freispruch und ein Sieg der Frauen
Der Inspekteur erringt einen Freispruch – und trotzdem haben er und die Polizeispitze viel verloren.
Von Christine Bilger
Stuttgart - Der Mann ist freigesprochen. Nicht irgendein Mann. Der höchste uniformierte Polizeibeamte im Land, der Inspekteur Andreas Renner, verlässt das Landgericht Stuttgart am Freitag mit einem Freispruch. Kein astreiner, sondern einer aus Mangel an Beweisen. Erhobenen Hauptes verlässt er den Saal, immer an seiner Seite seine Gattin, händchenhaltend und mit einer zum Markenzeichen und Sinnbild des Prozesses gewordenen Handtasche: „Stay strong“, bleib stark, ist in deren Riemen gewebt.
Kraft, das hat vor allem eine gebraucht, die auch im Saal war, aber sich den Blicken entziehen durfte: die Nebenklägerin. Sie geht zum Nebenausgang raus. Geht sie als Verliererin? Nein. Denn es ging in dem Verfahren nicht nur darum, was in jener Nacht vom 12. auf den 13. November 2021 vorgefallen ist, in der durch den Vorfall zu zweifelhafter Berühmtheit gelangten Eckkneipe in Stuttgart-Bad Cannstatt. Es ging darum aufzuarbeiten, ob ein Vorgesetzter seine Macht missbraucht hat, um sexuelle Gefälligkeiten zu bekommen. Das steht über allem.
Und dieses Thema bleibt, ist durch den Prozess ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Machtmissbrauch, Sexismus und Männerseilschaften bei Bewerbungsverfahren: Der Vorfall und die Anzeige haben viel ans Licht gebracht, was in der Polizei im Südwesten nicht stimmt. Die Frauen haben gewonnen, denn endlich wird über die strukturellen Probleme gesprochen. Sogar ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss kam dadurch zustande. Die Hauptkommissarin hat einen großen Sieg erkämpft, eine große Aufklärungswelle angestoßen. Dafür gebührt ihr Respekt, denn das erfordert großen Mut.
Alles kann so ein Prozess nicht aufarbeiten, das ist auch nicht die Rolle eines Strafverfahrens. Aber ohne das Verfahren wäre vieles im Verborgenen geblieben. Zwei Frauen wurden ausfindig gemacht, mit denen der Inspekteur sexuelle Beziehungen hatte. Beide stellten diese ein, nachdem sie eine Karrierestufe erklommen hatten. Das legt nahe: Es steckt ein System dahinter. Männer und Frauen haben der Hauptkommissarin Respekt gezollt, dass sie sich wehrt. Weil viele es nicht getan haben.
Immer wieder hat man von Frauen in den Verhandlungspausen gehört: „Das ist die Polizei, die uns beschützen soll? Können die das?“ Das Bild der Polizei hat durch das Verfahren nicht nur gelitten. Das Vertrauen ist erschüttert worden. Da gibt es viel aufzuarbeiten, daran hängt auch die Zukunft des Innenministers Thomas Strobl. Das ist er Tausenden anständigen Polizistinnen und Polizisten im Land schuldig, die zu Unrecht in Sippenhaft für die Verfehlungen der Mächtigen genommen wurden.
Doch nicht nur die Polizei steht nach dem Verfahren unter Beobachtung. Auch die Justiz. Was da an Zwischentönen mitschwang, als der Richter die Aussagen der Frau einordnete, ließ viele Alarmglocken schrillen. Natürlich konnte die Kammer belegen, warum sie den Aussagen der Frau keinen Glauben schenkte. Die Legende von der erfundenen sexuellen Nötigung, als raffinierter Trick, um ihren verflossenen Liebhaber zurückzugewinnen, wurde nicht ganz so hart auf den möglichen Wahrheitsgehalt geprüft. Da bleibt ein bitterer Nachgeschmack: Man kann es nicht beweisen, also lügt die Frau. Traurig, aber wahr – das ist die Argumentation gewesen.
Den Sieg, das Machtsystem entlarvt zu haben, dürfen sich die Frauen dennoch nicht nehmen lassen. Es muss ans Licht kommen, was falsch läuft. Mehr mutige Frauen müssen sich offenbaren. Das Sprechen einer Frau hat ein politsches Erdbeben ausgelöst, das der Innenminister längst noch nicht abschließend unbeschadet überstanden hat.