Leitartikel: Ein Warnsignal aus Frankreich?
Die Polizeigewerkschaft hält massive Krawalle einer ausgegrenzten Jugend auch in Deutschland für möglich.
Von Wolfgang Molitor
Es hat nicht lange gedauert. Nach einer ausufernden Jugendkrawallwoche in Frankreich scheint es für manche an der Zeit, eine ähnliche Eskalation in Deutschland für möglich zu halten. Wenn auch mit der vorsorglich einschränkenden Feststellung, dass trotz einiger Parallelen die Lage hierzulande natürlich nicht direkt vergleichbar mit Frankreich sei.
Was denn nun? Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) hält auch in Deutschland „an bestimmten Orten solche Krawalle“ für denkbar. Was nicht bedeutet: für wahrscheinlich. Dabei ist ihre Einschätzung, dass auch in Deutschland die Ablehnung der Demokratie und staatlicher Autorität zunimmt, nicht von der Hand zu weisen. Die Zahl der Angriffe auf Polizisten, Sanitäter, Verwaltungsangestellte, Lehrer oder Kommunalpolitiker wächst dramatisch.
Im Ruhrgebiet gab es in Essen und Castrop-Rauxel vor Kurzem Massenschlägereien um die Vorherrschaft in ganzen Stadtvierteln zwischen verfeindeten türkisch-arabischen und libanesisch-syrischen Großfamilien, bei denen Hunderte teilweise bewaffnete Männer auf offener Straße aufeinander einschlugen. In Stuttgart schwelt seit Längerem ein kurdischer Bandenkonflikt. In Berlin traut sich die Polizei manchmal nicht mehr in Bezirke, in denen selbst ernannte „Friedensrichter“ dem Rechtsstaat die Rolle des Schlichters oder Urteilenden absprechen und ihr eigenes, oft extrem religiös geprägtes Recht proklamieren. Noch sind solche Auswüchse zum Glück nicht die Regel und mit hohem polizeilichen Aufwand beherrschbar.
Was da abläuft, ist kriminell. Denn es handelt sich dabei weniger um junge Menschen, die GdP-Chef Jochen Kopelke mit dem Blick nach Frankreich „zu Verlierern der Transformation der Arbeitswelt, der Digitalisierung oder Integrationsherausforderungen“ zählt. Unbestritten: Auch in Deutschland fühlen sich viele zu Recht sozial benachteiligt, wenn nicht sogar „bereits abgehängt“, wie nicht nur Michaela Engelmeier, die Vorstandsvorsitzende des Sozialverbands Deutschlands, konstatiert.
Aber dient das zur Rechtfertigung, wenn sich junge Menschen dem Gesetz mit Gewalt verweigern? Nutzt da eine verständnisvolle Analyse, wenn aus sozial ausgegrenzten und sich ausgrenzenden Migranten marodierende Brandstifter und Plünderer werden? Dass dieser Konflikt nicht mit immer mehr Polizei gelöst werden kann, ist klar. Dass die Politik mit noch mehr Prävention gegensteuern muss, auch. Aber auch das gehört zum Alltag: dass Integrationshilfen, schulische und soziale Angebote angenommen werden und eingesehen wird, dass nicht immer die anderen, nicht immer der Staat daran Schuld trägt, wenn es bei einem selbst nicht läuft. Viele Rassismusvorwürfe sind berechtigt, in Frankreich wie in Deutschland. Aber ein Grund, sich auf die Seite der Gewalt zu schlagen, sind sie nicht.
Anders als in Frankreich gibt es in Deutschland keine unüberwindbare Spaltung der Gesellschaft. Anders als in Frankreich greift die rechte extreme Gesinnung – trotz bedrohlichen Zulaufs – nicht nach der Mehrheit. Anders als in Frankreich trägt das soziale Netz die allermeisten sozial Schwachen. Anders als in Frankreich gibt es keine Vorstädte, die sich ausschließlich zu sozialen Brennpunkten verfestigt haben. Noch. Aber eine Garantie, dass das auf Dauer so bleibt, kann niemand geben. Ebenso wenig wie die, dass angesichts steigender Flüchtlingszahlen weiter auf die große Akzeptanz in Stadt und Land gebaut werden kann. Ist Frankreich also für Deutschland ein Warnsignal? Möglicherweise nicht für eine Eskalation auf den Straßen, aber vielleicht in vielen Köpfen. Letzteres wäre für die Demokratie weitaus schlimmer.