Leitartikel: Landesverteidigung beginnt im Kopf

Air Defender bringt zurück, was nach dem Kalten Krieg überwunden schien. Muss man das ertragen?

Von Christoph Reisinger

Stuttgart - Das gibt Krach. Schließlich entfaltet das von Deutschland geführte und auf den deutschen Luftraum und deutsche Flugplätze konzentrierte Großmanöver Air Defender erhebliche Wucht: Fast 250 Flugzeuge kommen in den nächsten zehn Tagen zum Einsatz; 25 Nationen machen mit. So viel militärische Wucht hat die Bevölkerung seit Ende des Kalten Krieges nicht mehr erlebt – und aushalten müssen.

Die Reaktionen auf Lärm und auf Verspätungen wegen zeitweiser Sperrung von Lufträumen für den zivilen Verkehr werden einen ersten Anhaltspunkt dafür geben: Wie weit ist es tatsächlich her mit der Zeitenwende, die Bundeskanzler Olaf Scholz kurz nach Ausweitung des russischen Überfalls auf die Ukraine im Februar 2022 ausgerufen hat?

Schließlich macht Air Defender fühlbar: Die Zumutungen aller Vorsorge für die äußere Sicherheit sind nicht samt und sonders wegdelegierbar an Soldaten. Und es geht um mehr als Geld für die Bundeswehr, so wichtig das auch ist.

Das wird nicht allen gefallen. Vom realitätverweigernden Friedensbewegten bis zur genervten Touristin wird die Riege der Kritiker reichen. Aber es führt kein Weg daran vorbei: Landes- und Bündnisverteidigung sind vor allem eines – Kopfsache. Wie sehr, das demonstriert die Bevölkerung der Ukraine so eindrucksvoll. Menschen, deren Sorgen und Hoffnungen – nicht ganz anders als in Deutschland – zu einem großen Teil auch um den eigenen Job, das Einkommen, die Perspektiven für die Kinder, Fußball-Ergebnisse oder Mängel in Verwaltung und Versorgung kreisten. Mit voller Wucht sind diese Menschen vom russischen Angriff und von einer verbrecherischen Kriegführung getroffen worden – und knicken doch nicht ein.

Keine Sehnsucht nach Unterwerfung um einer bösen Ruhe willen. Nirgends. Was für eine mentale Leistung, was für ein Wille zur Selbstbehauptung. Fluglärm oder Verspätungen zu ertragen schrumpft daneben zu einem ausgesprochen bescheidenen individuellen Beitrag zum Erhalt der Freiheit und zu einer glaubhaften Abschreckung.

Dass es ohne die nicht geht – auch das lehrt das ukrainische Beispiel. Das Land stand ziemlich allein da, als sein Nachbar Russland 2014 damit begann, sich Teile der Ukraine mit militärischer Gewalt anzueignen. Nicht zuletzt die beschämend leisetreterische Reaktion im Rest Europas animierte die mit weitem Abstand stärkste Militärmacht des Kontinents, im vergangenen Jahr den nächsten Schritt zu wagen.

Auch in dieser Hinsicht steht Air Defender für etwas Größeres, für einen politischen Kern: Die Teilnehmer stärken mit dieser Übung die Fähigkeit ihrer Luftstreitkräfte zum wirksamen Einsatz, insbesondere zum gemeinsamen Einsatz. Aus der sicheren Erkenntnis, dass mit Ausnahme der Amerikaner alle Nato-Partner zu schwach wären, jeweils im Alleingang einen größeren Angriff abzuwehren. Dass sich die USA daran mit rund 100 Flugzeugen und mit mehreren Tausend Soldaten beteiligen, die sie innerhalb weniger Stunden nach Europa bringen, ist alle Anerkennung wert.

Kritisch gegen Air Defender 2023 ließe sich allenfalls einwenden, das seit 2018 erdachte Übungsdrehbuch trage zu wenig den Faktoren Rechnung, die für das Beherrschen des eigenen Luftraums inzwischen sehr große Bedeutung haben: unbemannte Systeme etwa, also sogenannte Drohnen mit und ohne Waffen, Elektronische Kampfführung, Hochgeschwindigkeitsfernwaffen. Nur, jetzt gilt es erst einmal, Verlerntes aufzuholen. Und so problematisch, wie es gerade um die Sicherheit in Europa bestellt ist, wird diese Übung leider ohnehin nicht die letzte ihrer Art sein können.

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Erstellt:
11. Juni 2023, 22:08 Uhr

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