Leitartikel: Zu lange von der Substanz gezehrt

Wenn sogar in Stuttgart die Stadtbahn kriselt, ist das ein Signal: Deutschland droht seine Bahnen zu ruinieren.

 

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Von Andreas Geldner

Stuttgart - Nun hat es also auch den Musterknaben erwischt. Lange hatten die Stuttgarter Straßenbahnen (SSB) nicht nur in der Region, sondern auch in ganz Deutschland den Ruf, einer der verlässlichsten Anbieter von Schienenverkehr in einer Großstadt zu sein. Doch wie schnell ein vermeintlich solides System ins Wanken geraten kann, erleben die Fahrgäste gerade schmerzlich. Auf einmal fallen wegen Personalmangels Stadtbahnen aus. Dass dies auch einem bisherigen Musterbetrieb passieren kann, ist ein Warnsignal. Immerhin: Die Substanz ist noch intakt. Es gibt Hoffnung auf Besserung. Und auf Geld.

Stadtbahnen und Straßenbahnen in Deutschland stehen insgesamt noch gut da. Die seit langem geplagten S-Bahn-Fahrgäste rund um die Großstädte oder die Passagiere der Deutschen Bahn können hingegen nur müde lächeln. Das einzig Planbare ist für sie, dass nichts mehr planbar ist. In der Region Stuttgart verschlechtern sich die Pünktlichkeitswerte der S-Bahn stetig. Und von drei Zügen im Bahnfernverkehr hinkt zurzeit einer dem Fahrplan hinterher.

Ausgerechnet in einer Zeit, wo das Thema Klimaschutz dem Schienenverkehr einen kräftigen Schub verschaffen könnte, steht er blank da. Auch andere Bereiche des öffentlichen Verkehrs, etwa die Busunternehmen, haben Sorgen, zum Beispiel wegen fehlenden Personals. Doch bei der Schiene klafft die Schere zwischen den Erwartungen und der Bereitschaft, dafür finanziell geradezustehen, besonders weit auseinander.

Dass gerade der Schienenverkehr vielerorts einen Kipppunkt erreicht hat, ist kein Zufall. Bahnen sind besonders leistungsfähige und komfortable, aber auch komplexe Verkehrssysteme. Damit die eng geknüpften Fahrpläne zuverlässig funktionieren, müssen viele Dinge ineinandergreifen, vom Signal oder der Weiche bis zum mit den nötigen Reserven verfügbaren Personal. Wenige Schwachstellen reichen, um alles aus dem Takt zu bringen. Und so entsteht eine Abwärtsspirale.

Über Jahrzehnte wurde in Deutschland viel Geld in die Straßen gesteckt und zu wenig in die Schiene. An die Bahnen hat man dennoch immer höhere Anforderungen gestellt: mehr Züge, schnellere Verbindungen, engerer Takt. Den realen Preis dafür hat man den Bürgern aber nie zu präsentieren gewagt. Und so hat beispielsweise die Deutsche Bahn bei ihrem Netz eben gespart, wie sie konnte. Doch das Problem reicht tiefer als die aktuell in der Ampelregierung diskutierte Frage, wie man die Netzgesellschaft der Bahn künftig organisiert. Das Tückische bei Infrastruktur ist, dass die Substanz eine Weile hält und die Folgen kaschiert werden können – bis es kippt. Es ist sozusagen die Klimaschutzproblematik im Kleinen.

Das aktuelle Deutschlandticket verkörpert den Widerspruch zwischen Wunsch und Verantwortung in ganz besonderem Maße. Als Anreiz, die Bürger in Busse und Bahnen zu locken, ist es ein richtiger Schritt. Aber es bedeutet auch, dass künftig mehr die Steuerzahler und weniger die Nutzer für den öffentlichen Verkehr geradestehen müssen und dass es Investitionen braucht. Doch Bund und Länder verdrängen bisher die Konsequenzen. Denn viele andere Strukturprobleme schreien ebenfalls nach Geld.

Zum Abwarten ist aber keine Zeit. Es wird viele Jahre dauern, die heruntergewirtschaftete Infrastruktur zu stabilisieren. Ein paar nach Kassenlage in die Haushalte eingeschobene Milliarden reichen nicht. Es geht um Verpflichtungen über Jahrzehnte. Die reiche Stadt Stuttgart hat es gegenüber den SSB gerade geschafft, ein solches Generationenversprechen zu machen. Auf anderen Ebenen der deutschen Politik ist man von einem solchen in die Zukunft reichenden Bekenntnis leider noch weit entfernt.

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Erstellt:
16. Juli 2023, 22:06 Uhr

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