Mit Matheformeln auf Europatour

Der gebürtige Stuttgarter Alexander Blessin startet mit Royale Union Saint-Gilloise in der Europa League. Bei dem etwas anderen belgischen Club spielen ein Milliardär und Mathematik eine gewichtige Rolle.

Von Jürgen Frey

Stuttgart - Der Pilot machte es spannend. Mitten auf dem Rückflug vom entscheidenden Europa-League-Qualifikationsspiel beim FC Lugano (2:0, 0:1) gab der Flugkapitän das Ergebnis der Gruppenauslosung für Royale Union Saint-Gilloise bekannt: „Linzer ASK, FC Toulouse“, drang aus den Bordmikrofonen. Und nach einer kurzen Pause noch: „FC Liverpool.“ „Da war die Freude schon sehr groß“, sagt Trainer Alexander Blessin. „Gegen die Reds von Jürgen Klopp zu spielen, ein Auftritt an der legendären Anfield Road – das ist ein Traum.“ Am 5. Oktober (21 Uhr) geht’s für den gebürtigen Stuttgarter mit seinem belgischen Club nach England. Doch zunächst steht an diesem Donnerstag (18.45 Uhr) die Europa-League-Premiere daheim gegen den FC Toulouse an.

Die internationalen Spiele trägt der Verein aus dem Stadtteil von Brüssel im angrenzenden Anderlecht aus. Das eigene Stadion fasst nur knapp 10 000 Zuschauer – ein neues ist in Planung. Überhaupt kommt einem die Entwicklung von Royale Union fast wie im Märchen vor. Der sehr traditionsreiche Verein (elf belgische Meisterschaften bis 1935) spielt erst im dritten Jahr wieder in der ersten Liga. „Das ist ein supertoller Club, der aus der Versenkung kam, es macht riesigen Spaß“, schwärmt Blessin.

Die Mehrheitsanteile hält der englische Zocker-Milliardär Tony Bloom, der schon 2009 den englischen Club Brighton & Hove Albion zu 75 Prozent übernommen hat. Dem studierten Mathematiker ratterten am Pokertisch stets Algorithmen und Wahrscheinlichkeiten durch den Kopf, die er kühl bewertete. Darauf aufbauend gründete Bloom einst die Datenfirma Starlizard, und mit dieser revolutionierte er ein Stück weit auch den internationalen Fußball. Spieler werden zunächst einmal allein durch Daten gescoutet. Und so kommt man auf Profis, die optimal passen, aber andernorts durchs Raster fielen und somit günstiger sind. Das tun auch andere Clubs, aber keiner so effektiv wie Brighton und Saint-Gilloise.

Bester Beweis: Das nigerianische Stürmer-Juwel Victor Boniface, der Senkrechtstarter bei Bayer Leverkusen, hatte von 2019 bis 2022 beim norwegischen Club FK Bodo/Glimt nach überstandenem Kreuzbandriss eine bescheidene Torquote. Die über den Angreifer ermittelten statistischen Daten, auch was die Physis betrifft, brachten aber offenbar überragende Ergebnisse, sodass ihn Royale Union verpflichtete. Und ihn vor dieser Runde für eine Ablöse von 17 Millionen Euro plus Boni an den Bundesligisten verkaufte. Auch Deniz Undav (aktuell als Leihspieler beim VfB Stuttgart) durchlief die Stationen Saint-Gilloise und Brighton, nachdem das System während seiner Station beim Drittligisten SV Meppen angeschlagen hatte.

Blessin bezeichnet die Arbeit bei diesem etwas anderen Club als „geile Herausforderung“. Als Trainer des Jahres 2021 in Belgien aus seiner Zeit bei KV Oostende genießt er ein überragendes Standing im Land. Doch auch die Erfahrungen aus seiner Tätigkeit von Januar bis Dezember 2022 beim traditionsreichen CFC Genua in der Serie A und B will er nicht missen.

„Im Nachhinein habe ich für das Jahr ein gutes Gefühl. Es gab enorm viele Emotionen, viel Arbeit, viel Intensität, da nimmt man viel mit. Ich habe neue Erfahrungen gesammelt, viel Positives, aber natürlich auch Sachen, aus denen man lernen kann“, sagt Blessin, der sich in dieser Zeit auch über das Lob der Trainerlegende Fabio Capello freute: Er meinte, dass sich der immer noch vom defensiv orientierten Catenaccio geprägte italienische Fußball etwas von der Spielphilosophie der deutschen Trainer Jürgen Klopp und Alexander Blessin abschauen sollte.

Überhaupt Klopp. „Ich warte immer noch auf einen Anruf von ihm“, sagt Blessin mit einem Schmunzeln. Als der ehemalige Stürmer noch bei den Stuttgarter Kickers unter Vertrag stand (1999 bis 2001), hieß der damalige Zweitliga-Trainer des 1. FSV Mainz 05 Jürgen Klopp. „Er hatte mir signalisiert, dass er mich unbedingt verpflichten wollte, doch irgendwie ist das Ganze im Sande verlaufen.“

Blessin landete über die Spielerstationen Wacker Burghausen, VfB Leipzig, SC Pfullendorf, TSG Hoffenheim, SF Siegen, Jahn Regensburg, SSV Reutlingen und SV Bonlanden als Trainer im Nachwuchsbereich von RB Leipzig. Dort war er von 2012 an acht Jahre lang tätig. Gleich in seinem ersten Jahr als Trainer einer Erwachsenenmannschaft bekam er dann in Belgien die Auszeichnung zum „Coach des Jahres“. Jetzt will er mit Royale Union Saint-Gilloise für Furore sorgen: „Ich mag die belgische Liga. Sie ist hochattraktiv und durch die vielen tollen Talente im Blickfeld der Scouts sowie der großen Clubs.“ Und im Hintergrund sitzt in seinem Verein zudem ein Milliardär, der die Fantasie hat, Titel zu holen.

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Erstellt:
20. September 2023, 22:08 Uhr
Aktualisiert:
21. September 2023, 21:57 Uhr

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