Nicht nur Gold zählt
Die Special Olympics World Games sind ein Inklusionsfest, bei dem das Zusammensein über dem Kräftemessen steht.

© Sarah Rauch/Sarah Rauch
Elvira (links) und Inna Amirov haben sich in Berlin mit ihrem Team Gold in der Lagenstaffel gesichert.
Von Anna-Sophie Kächele
Berlin - Über dem Becken steht die warme, feuchte Luft. Die Welle von Euphorie und ansteckendem Jubel, der durch die Halle schwappt, hinterlässt eine Gänsehaut. Die ersten drei Bahnen der Lagenstaffel führen die Schwimmerinnen und Schwimmer aus den USA, dann holt Deutschland auf. Die Anfeuerungsrufe und Pfiffe in der Schwimm- und Sprunghalle im Europasportpark werden immer lauter und tragen Elvira Amirov durch die letzte Bahn. Ihre drei Mitschwimmerinnen, darunter ihre Zwillingsschwester Inna, warten schon im Wasser. Vier mal 50 Meter in 3:02,93 Minuten. Das bedeutet Gold bei den Special Olympics World Games in Berlin, in der Lagenstaffel der Männer gibt es kurz danach Bronze.
Es ist die weltweit größte inklusive Sportveranstaltung, bei der mehr als 7000 Athleten mit geistiger und mehrfacher Behinderung aus 170 Ländern teilnehmen. Unter dem Motto #ZusammenUnschlagbar treten die Sportlerinnen und Sportler in 26 Sportarten gegeneinander an. Ein buntes Fest für mehr Anerkennung und Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung – so die Beschreibung auf der Webseite.
Auf dem Weg in die Umkleide werden die Athletinnen von ihrer Trainerin Bettina Daurer umarmt. Inna und Elvira Amirov schwimmen seit acht Jahren in der Behindertensportgemeinschaft (BSG) Neckarsulm. Bettina Daurer trainiert und begleitet die 21-Jährigen seit Jahren. 2017 bei ihrem ersten Wettkampf, den Special Olympics Bodensee Games, schwammen die Zwillinge nur zusammen. Als Inna damals wegen zu guter Leistungen umklassifiziert wurde, weigerte sich ihre Schwester erst, weiter zu schwimmen. Heute schwimmen beide selbstständig in ihren Lieblingsdisziplinen – Inna Rücken und Freistil, Elvira Brust .
„Behindertensport ist so viel mehr. Da geht es auch um Erlebnisse, Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen“, sagt Heike Acker, Abteilungsleiterin und Fußballtrainerin der BSG Neckarsulm. Auch sie hat das Rennen verfolgt, den Vormittag hat sie im Olympiapark verbracht. In ihrer Unified-Fußballmannschaft spielen Männer mit Beeinträchtigung der BSG mit Männern ohne Beeinträchtigung vom VfR Heilbronn zusammen. In 16 von 26 Sportarten gehen solche gemischten Mannschaften an den Start. Vor wenigen Stunden hat das deutsche Team 1:2 gegen Südkorea verloren. Die Trainerin ist sichtlich frustriert.
Eine Stunde später steigen die vier Schwimmerinnen unter tosendem Applaus auf das Siegertreppchen. Die Haare noch feucht, ein breites Lächeln im Gesicht, winken Inna und Elvira Amirov, Lea Helbing und Patrizia Spaulding den Zuschauern zu.
Auch die Eltern der Schwimmer Dorian Burkhardt und Simon Rupp sind im Publikum. „Es ist spannend und hochemotional, wie sich die Sportler bei den Special Olympics selbst feiern“, sagt Janine Burkhardt. Gerade hat sie Familie Rupp, die sie hier kennengelernt hat, ein weiteres Päckchen Taschentücher angeboten. „Die Sportler wollen gewinnen, und trotzdem gönnt es jeder jedem“, sagt ihr Partner. Trotzdem gäbe es im Behindertensport noch eine Menge zu tun, denn offenbar sind die Special Olympics nicht in allen Teilen Berlins angekommen: Sie seien oft angesprochen worden, wohin sie mit der aufgemalten Deutschlandflagge im Gesicht gehen, erzählt das Ehepaar Rupp.
Beim deutschen Männerteam fällt die Reaktion auf die Bronzemedaille für die Staffel ganz unterschiedlich aus. Auch wenn der Grundsatz „dabei sein ist alles“ über allem zu schweben scheint, haben die Sportlerinnen und Sportler Ziele, enttäuschter Ehrgeiz spiegelt sich in manchen Gesichtern. Der Schwimmer Salih Ismail Yalcin von der BSG Neckarsulm ist zufrieden und sagt im gleichen Atemzug: „Wir müssen trotzdem schneller werden.“ Aber ihm gehe es in erster Linie darum, dabei zu sein. Das Team sei für ihn wie eine Familie, sagt er.
Bei der Athletenparty vor dem Brandenburger Tor treffen am Abend die Delegationen, Volunteers, Sportfunktionäre und Mitarbeiter in gelöster Stimmung aufeinander. Es wird Wassereis verteilt, auf der Bühne rappt ein Sänger „Athleten erwecken die Special Olympics zum Leben“. Seifenblasen ziehen durch das Brandenburger Tor in Richtung Einlass, durch den immer mehr Mannschaften strömen.
Zur gleichen Zeit steht Fußballtrainerin Heike Acker drei Kilometer weiter auf einem Tisch im Konferenzraum ihres Hotels. Auf ihrer Wade steht „Unified Germany 2“. Aus Henna wohlgemerkt, „für euch würde ich es mir auch richtig tätowieren lassen“, sagt die Trainerin aus Neckarsulm und dreht ihr Bein so, dass ihr Team den Schriftzug erst verhalten, dann wohlwollend jubelnd begutachten kann. Heike Ackers dunkle Stimme hat Wumms. Wenn sie von den Spielern spricht, dann von ihren Jungs, manche davon kennt sie schon seit vielen Jahren.
Sie und ihr Kollege Fritz Quien haben die Spieler für eine Besprechung einbestellt. Am nächsten Tag steht das Spiel um die Bronzemedaille an – für ausgelassenes Feiern ist es zu früh. „Ihr habt in den vergangenen Tagen Werbung für den Inklusionsfußball gemacht“, sagt der Trainer Fritz Quien sichtlich stolz. Auch Heike Acker ist trotz des enttäuschenden Verpassens des Finales zufrieden. Bei einem Spiel im Halbfinale Standing Ovations zu bekommen, das habe sie noch nie erlebt. „Wenn ihr den besten Döner in Berlin gefunden habt, geben wir einen aus“, verspricht sie deshalb ihrem Team. Am Ende besiegt ihre Unified-Mannschaft Ghana 4:1 und holt damit eine weitere Medaille für Deutschland und Baden-Württemberg.
Die beiden Trainer Acker und Quien engagieren sich aber nicht nur wegen der Medaillen und Erfolge – sie haben für den Behindertensport die gleiche Vision: mehr Präsenz in den Medien nicht nur während der weltweit größten Veranstaltung. Feste Stellen für Inklusion in den Kommunen und mehr berufliche Möglichkeiten für Menschen mit Beeinträchtigung. Nur mit Ehrenamtsstellen lasse sich Inklusion nicht stemmen, sagt Heike Acker. „Die Sportfachverbände und Politiker müssen an einen Tisch sitzen und darüber sprechen, wie sich nachhaltig Begegnungen zwischen Menschen mit und ohne Behinderung schaffen lassen“, ergänzt Quien, der auch das Inklusionsprogramm „Pfiff“ leitet. „Pfiff“ ist ein inklusives Training, das in Zusammenarbeit mit dem VfB Stuttgart, den drei Fußballverbänden in Baden-Württemberg und den Behindertensportverbänden entstanden ist.
Laut dem deutschen Behindertenverband bieten nur sieben Prozent der deutschen Vereine Behindertensport an. Dabei sei es nicht so viel anders, Menschen mit Beeinträchtigung zu trainieren, sagt Fritz Quien. Man müsse nur die Übungen anpassen.
In Berlin werden in dieser Woche Menschen mit Behinderung in den Mittelpunkt gerückt. Dass heute weltweit rund fünf Millionen Athletinnen und Athleten zu dieser Inklusionsbewegung gehören, ist Eunice Kennedy-Shriver, einer Schwester des ehemaligen US-Präsidenten John F. Kennedy, zu verdanken. Sie gründete 1968 die Special Olympics für ihre geistig behinderte Schwester Rosemary. A uch wenn die Special Olympics nach knapp 55 Jahren nicht allen ein Begriff zu sein scheinen, wächst in diesen Tagen in Berlin doch das Bewusstsein für Menschen mit Behinderung. Damit auch abseits dieser Veranstaltung und über sie hinaus über Behindertensport gesprochen wird, muss aber noch einiges getan werden.