Notfallpraxis kürzt die Öffnungszeiten
Ein Urteil des Bundessozialgerichts wirft das bisherige Konzept in Stuttgart und in der Region über den Haufen. Weil Poolärzte nicht mehr wie bisher eingesetzt werden können, bleibt die Praxis am Marienhospital nun freitagnachmittags geschlossen. Der Ärger in der Ärzteschaft ist groß.
Von Mathias Bury
Stuttgart - Michael Oertel ist ein Routinier, den nicht so schnell was aus der Ruhe bringt. Das ist derzeit anders. „Unsere Praxis trifft das wie ein Hammer“, sagt der niedergelassene Allgemeinarzt. Als Vorstand der Geschäftsstelle Notfallpraxis koordiniert Oertel mit seinem Praxisteam die ärztlichen Notdienste in Stuttgart, schon 24 Jahre. Seit das Bundessozialgericht entschieden hat, dass sogenannte Poolärzte, die auch in Stuttgart den wesentlichen Teil der Dienste in der Notfallpraxis der Niedergelassenen im Marienhospital und den Fahrdienst abdecken, sozialversicherungspflichtig seien, ist der Notdienst selbst zum Notfall geworden.
Zwar ist eigentlich jeder niedergelassene Arzt zur Teilnahme am Notdienstsystem verpflichtet, weil das aber nicht jeder kann oder will, konnte der Betreffende das bisher einfach in den Dienstplan bei der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Baden-Württemberg eintragen. Auf diesen hatten auch Poolärzte Zugriff, also etwa angestellte Mediziner oder Pensionäre, die keine Notdienste machen müssen, aber wollen.
Diese Vermittlungsstelle gibt es seit Dienstag nicht mehr. Man habe „die Notbremse“ gezogen, sagt KV-Sprecher Kai Sonntag. Bisher haben die Poolärzte direkt mit der KV abgerechnet, jetzt muss ein dienstpflichtiger Niedergelassener selbst einen anderen Arzt beauftragen, für ihn Dienst zu tun, und diesen auch selbst bezahlen, mit allen aufwendigen Formalitäten und Kosten.
Was machen in dieser Lage? Michael Oertel und sein Team haben nach dem Bekanntwerden des Urteils – vorher durften sie das nicht – alle notdienstpflichtigen Ärzte angeschrieben und einen neuen Dienstplan gemacht. In der Hoffnung, dass die sich melden und in der Notfallpraxis, wo pro Jahr etwa 60 000 Menschen behandelt werden, zum Dienst antreten. Oder doch auf die Schnelle einen anderen Arzt finden. Die nächsten Tage seien „eine kritische Zeit“, sagt der Notdienstkoordinator. Bald solle beim Ärzteverband Medi eine neue Plattform aufgebaut sein, die Suchende und Abgebende zusammenbringt.
Weil das aber wahrscheinlich nicht auf Anhieb funktionieren wird, hat der Verein Notfallpraxis Stuttgart seine Leistungen eingeschränkt. Die Dienstzeiten im Marienhospital wurden von 19 Uhr auf Mitternacht verkürzt, bisher war immer bis ein Uhr offen. Vor allem aber ist die Notdienstzeit am Freitag von 14 bis 19 Uhr gestrichen. In dieser Zeit hätten die Niedergelassenen selbst noch ihre Praxen offen. Im Fahrdienst in der Nacht sind künftig unter der Woche nur noch zwei statt drei Fahrzeuge in Stuttgart unterwegs, am Wochenende drei statt bisher vier.
Das kommt nicht nur beim Marienhospital nicht gut an. Die Einschränkungen bedeuteten „eine signifikante Mehrbelastung der Notaufnahme“, sagt Yves Oberländer, der Ärztliche Direktor für Notfallmedizin am Marienhospital. Das betrifft alle Notaufnahmen in Stuttgart, besonders aber das Marienhospital und vor allem am Freitagnachmittag. Die meisten Hilfesuchenden könnten die Notfallpraxis der Niedergelassenen und die Notaufnahme des Marienhospitals „nicht unterscheiden“ und landeten dann in letzterer, ärgert sich Yves Oberländer. Dafür habe man aber dort weder das Personal noch die Räume, bezahlt bekomme man es als Krankenhaus auch nicht. Auch nicht von der KV, die „einfach ihren Sicherstellungsauftrag kürzt – und wir Kliniken müssen diesen übernehmen“. Dadurch, so fürchtet Oberländer, „droht ein Kollaps unserer Notfallversorgung, da wir in den Notaufnahmen ohnehin seit Jahren schon am Limit arbeiten“.
In der Ärzteschaft ist der Ärger genauso groß. Auch Markus Klett, der Vorsitzende der Stuttgarter Ärzteschaft, ist ungehalten darüber, dass das bisherige Notfallsystem nicht mehr zulässig ist. Zwar stehen in seiner Liste noch rund 1400 Namen, darunter seien aber „nur knapp über 300 Hausärzte“. Die anderen sind Fachärzte und Psychotherapeuten. Alle Beteiligten sind sich einig, dass es wenig sinnvoll ist, etwa Fachärzte wie Radiologen oder Labormediziner, die mit dieser Praxis schon lange nichts mehr zu tun haben, zum Notdienst heranzuziehen. Deshalb seien die Poolärzte – 200 bis 300 sind in der Kartei – so wichtig, die bis zu 80 Prozent der Notdienste in Stuttgart stemmen. Und viele der in ihren Praxen ohnehin oft sehr stark beanspruchten Niedergelassenen könnten dazu nicht auch noch regelmäßig Zwölf-Stunden-Notdienste machen. Er selbst arbeite noch jeden Tag zehn bis zwölf Stunden, sagt Klett. Zusätzliche Notdienste „gefährden die Gesundheit“ bei den vielen älteren Kollegen, sagt Klett.
Der Medi-Verband sieht jetzt die Politik am Zug, eine rechtliche Regelung zu schaffen, die das alte System wieder möglich macht. Dies sei auch bei den Notärzten gelungen, erklärte Medi-Landesvorsitzender Norbert Smetak. Kritische Stimmen gibt es aber auch in Richtung der KV im Land. Andere KVs in der Republik hätten nicht so drastisch reagiert auf das Urteil und machten vorerst einfach weiter, bis die Rechtslage nach dem Urteil definitiv geklärt ist.
Ähnlich wie in Stuttgart ist die Lage an vielen Stellen der Region, mancherorts noch schlimmer. So werden die Notfallpraxen in Schorndorf und Geislingen geschlossen. Zu Einschränkungen des Praxisbetriebs kommt es in Mühlacker, Bietigheim-Bissingen und Herrenberg, dort machen die Notfallpraxen unter der Woche gar nicht mehr oder nur noch teilweise auf und konzentrieren sich auf das Wochenende und die Feiertage.