Europäische Union
Rätselraten über die „Migrationswende“ in Deutschland
Schärfere Grenzkontrollen, um die Migration zu kontrollieren, werden von vielen EU-Staaten gefordert. Die Ankündigung aus Berlin hat dann aber doch alle ziemlich überrascht – wie noch einiges andere.
Von Knut Krohn
Deutschland hat seine Nachbarstaaten überrascht. Die Entscheidung, von Montag an zusätzliche Grenzkontrollen einzuführen, traf die Regierungen völlig unerwartet. Berlin versucht, die Probleme allerdings herunter zu spielen und rechnet nach eigenen Worten nicht mit Problemen im Verhältnis zu den betroffenen Nachbarn. Der Sprecher des Bundesinnenministeriums, Maximilian Kall, betonte in Berlin, „dass wir natürlich mit allen europäischen Partnern in ganz engem Kontakt stehen“. Die betroffenen Länder seien vor der Anordnung der weiteren Binnengrenzkontrollen informiert worden. Die sehen das allerdings nicht alle so entspannt. Und es gibt große Fragezeichen angesichts der deutschen Debatte über verstärkte Zurückweisungen von Asylsuchenden an der deutschen Außengrenze
Österreich: Klarer Widerspruch aus Wien
Die Regierung in Wien kündigte ihren Widerstand zu den Plänen in Berlin an. Man werde die zurückgewiesenen Flüchtlinge nicht aufnehmen, sagte Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) und betonte: „Da gibt es keinen Spielraum.“ Er habe den Chef der österreichischen Bundespolizei angewiesen, keine Übernahmen durchzuführen. Bundeskanzler Karl Nehammer erinnerte das Nachbarland zudem daran, dass es gemäß EU-Recht grundsätzlich nicht möglich sei, Asylbewerber ohne entsprechendes Verfahren einfach abzuweisen. Berlin könne sich höchstens auf eine Notstandsklausel in EU-Verordnungen berufen und auf diesem Wege den Druck an seinen Grenzen erhöhen.
Sollte Deutschland durch solch eine „eigenwillige Rechtsinterpretation eine Unsicherheitslage schaffen, werden wir dagegen aufstehen und unsere Grenzen ganz klar schützen“, sagte der Kanzler. „Wir werden uns ebenfalls dann auf die Notstandsklausel berufen und ebenso dann zurückweisen.“ Diese deutliche, ablehnende Haltung hat auch damit zu tun, dass in Österreich am 29. September Nationalratswahlen sind. Migration ist ein zentrales Thema im Wahlkampf.
Polen: Warschau nennt Pläne „inakzeptabel“
Harsche Kritik auf die deutschen Pläne kommt aus Polen. Regierungschef Donald Tusk erklärte: „Ein solches Vorgehen ist aus polnischer Sicht inakzeptabel.“ Und er kündigte „dringende Konsultationen“ mit anderen „Nachbarn Deutschlands“ an, die von den Plänen betroffen seien. Seit Oktober 2023 gibt es bereits stationäre Kontrollen an der Grenze zu Polen. Diese wurden immer wieder verlängert und laufen aktuell bis zum 15. Dezember. Das sorgt vor allem bei Pendlern immer wieder für Unmut, weil es bisweilen zu Staus kommt.
Polen selbst hat seine EU-Außengrenze zu Belarus praktisch geschlossen. Inzwischen schützt dort ein mehrere Hundert Kilometer langer Zaun das Land. Grund ist, dass Russland und Belarus als hybride Kriegsführung immer wieder Migranten an die Grenze transportieren. Dabei kommt es auch zu sogenannten Pushbacks, dass Flüchtlinge von polnischen Beamten zurückgetrieben werden. Die sind mit EU-Recht nicht zu vereinbaren, werden von den Gerichten allerdings nicht verfolgt. Premier Tusk betont, dass er damit auch die EU schütze.
Niederlande: Geert Wilders freut sich
In den Niederlanden wird die Ankündigung mit Blick auf die Auswirkungen auf die heimische Wirtschaft mit einiger Sorge kommentiert. Deutschland ist der wichtigste Handelspartner, befürchtet wird, dass es im Fall von verschärften Kontrollen zu Staus an den Grenzen kommen könnte, die den Warenverkehr ausbremsen. Marjolein Faber, Ministerin für Migration, betonte allerdings, dass man abwarten müsse, wie die möglichen Maßnahmen umgesetzt würden. Stichprobenartige Passkontrollen in den Grenzregionen seien eher zu verkraften als richtige Schlagbäume, an denen jedes Auto angehalten wird. Vor einem abschließenden Urteil müsse man sich in Berlin Klarheit verschaffen. Ein Niederländer freut sich allerdings über die Ankündigung: Geert Wilders. Auf dem Nachrichtendienst X schreibt er: „Gute Idee. Das sollten wir auch machen.“
Ungarn: Viktor Orban triumphiert
Aus Ungarn kommt viel Spott von der Regierung für die deutsche Entscheidung. Viktor Orban triumphiert. „Deutschland hat entschieden, schärfere Grenzkontrollen einzuführen, um die illegale Migration zu stoppen. Bundeskanzler Scholz, willkommen im Klub“, schreibt der ungarische Premierminister auf dem Kurznachrichtendienst „X“. Auch der Europaparlamentarier Andras Laszlo aus Orbans Fidesz-Partei legt den Finger in die Wunde. „Deutschland ist zehn Jahre zu spät“, schreibt der nationalkonservative Politiker auf „X“. „Deutschland sollte helfen, die Außengrenzen des Schengenraumes zu schützen. Nicht die Bewegungsfreiheit innerhalb der EU einschränken.“
Ungarn sieht sich nach der Ankündigung aus Deutschland auf dem richtigen Weg in Sachen Migrationspolitik und gefällt sich mit neuen Provokationen. So hat Budapest angekündigt, künftig Migranten per Reisebus nach Brüssel zu fahren, die über einen Grenzübergang zu Serbien ins Land kommen. Mit der Aktion will die ungarische Regierung auf eine Rekordstrafe in Höhe von 200 Millionen Euro reagieren, die der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Juni gegen das Land wegen Verstößen gegen das EU-Asylrecht verhängt hatte.
Frankreich: Barnier will auch stärkere Kontrolle der Einwanderung
Die Grenzgänger zwischen Deutschland und Frankreich sind verschärfte Kontrollen gewöhnt. Wegen der Olympischen Spiele wurde der Verkehr bis Ende Oktober verstärkt überwacht. Entscheidend für die weiteren Reaktionen in Paris ist auch die im Moment reichlich undurchsichtige politische Situation. Der neue Premierminister Michel Barnier steht angesichts der sehr starken Rechten im Parlament unter Druck. „Ich werde eine entschlossene Politik der Einwanderungskontrolle unterstützen“, sagte Benjamin Haddad, konservativer Abgeordneter und enger Verbündeter von Präsident Emmanuel Macron dem Sender BMFTV. Es gebe auch in der Bevölkerung eine gewisse Erwartungshaltung, ergänzte er auch mit Blick auf die Ankündigung aus Deutschland.
Frankreich selbst verfolgt schon länger eine härtere Einwanderungspolitik. Ende vergangenen Jahres wurde im Parlament ein sehr strenges Einwanderungsgesetz verabschiedet. Die meisten Punkte wurde allerdings vom Verfassungsgericht wieder einkassiert - darunter auch eine Festsetzung von Einwanderungsquoten. Innenminister Gérald Darmanin jubelte dennoch über das neue Gesetz und schrieb, es sei noch nie so einfach gewesen, Straftäter auszuweisen. Auch Marine Le Pen vom Rassemblement National (RN) zeigte sich zufrieden. Sie feierte das neue Einwanderungsgesetz, auch in der abgespeckten Version, als einen „ideologischen Sieg“ für ihre Partei.