Medikamentenmangel und kein Ende

Weiter Zittern in der Apotheke

Der Medikamentenmangel, prognostizieren baden-württembergische Pharmaunternehmen , wird sich in der anstehenden Infektionssaison fortsetzen. Krankenkassen fordern den Aufbau eines umfassenden Frühwarnsystems bei Lieferengpässen.

Mehr als 500 Medikamente sind aktuell nicht oder nur eingeschränkt  lieferbar.

© Waltraud Grubitzsch/dpa

Mehr als 500 Medikamente sind aktuell nicht oder nur eingeschränkt lieferbar.

Von Rüdiger Bäßler

Der Medikamentenmangel in den Apotheken wird sich auch über den kommenden Winter hinweg fortsetzen. „Die Situation scheint sich nach unseren Erkenntnissen entspannt zu haben“, teilt die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg auf Anfrage unserer Zeitung zwar mit – was auch mit der Überwindung der Coronakrise und den wieder offenen Lieferketten nach China und Indien zu tun haben dürfte. Jedoch: „Wie es sich entwickelt, wenn bestimmte Arzneimittel im Zuge der Infektionssaison wieder verstärkt nachgefragt werden, können wir nicht abschätzen“, so der Ärzteverband.

Zehntausende Patienten, das ist jetzt schon sicher, müssen weiter zittern. Aktuell, so die Kassenärzte, gebe es einen „Lieferengpass bei Fluoxetin wegen Verunreinigung, die seitens der Firma festgestellt wurde“. Es handelt sich um ein Medikament zur Behandlung von Depressionen bei Kindern und Jugendlichen ab acht Jahren. Allein im zweiten Quartal dieses Jahres wurden laut Verband rund 12 000 Rezepte im Südwesten ausgestellt. Einen „Lieferengpass“ gebe es auch bei Wirkstoffen zur Behandlung von Diabetes mellitus Typ 2, genannt „GLP-1-Analoga“. Der Grund liege in „unterbrochenen Lieferketten sowie einer gleichzeitig höheren Nachfrage als vorgesehen“. Betroffen vor der Sommerpause: gut 45 000 Patienten.

500 Arzneien sind nicht verfügbar

Die Liefermängel gehen noch erheblich darüber hinaus. Nach Angabe des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) sind aktuell mehr als 500 Medikamente nicht oder eingeschränkt lieferbar, darunter seien jedoch „vielfach wirkstoffgleiche Arzneimittel eines Generikums von unterschiedlichen Herstellern“. Generika sind günstigere Kopien von Arzneimitteln, die schon auf dem Markt sind und deren Patentschutz abgelaufen ist. Da häufig vergleichbare Arzneimittel verfügbar seien, „ist nicht jeder gemeldete Lieferengpass automatisch ein Versorgungsengpass“, beruhigt ein Institutssprecher. In Deutschland sind rund 100 000 Arzneimittel zugelassen. Der Mangel betrifft allerdings sehr häufig benötigte Arzneien, nämlich Schmerzmittel und Antibiotika.

Wenn eine Fabrik in Asien ins Stocken gerät, spüren das deutsche Patienten. Doch nicht nur die Produktionsverlagerungen von Wirkstoffen nach Asien machen die Lieferketten anfällig. Laut dem Hersteller Boehringer Ingelheim, der auch eine große Fabrik in Biberach betreibt, gibt es derzeit „Lieferengpässe“ bei zwei hauseigenen Thrombolytika – das sind Notfallmedikamente gegen plötzlich auftretende Blutgerinnsel im Körper. Die Medikamente würden „ausschließlich in Deutschland produziert“, so ein Unternehmenssprecher, der Mangel resultiere „aus einer weltweit gestiegenen Nachfrage bei gleichzeitig begrenzten Produktionskapazitäten“.

Ein neues Gesetz soll Besserung schaffen

Laut einer Sprecherin des Herstellers Teva in Ulm (ehemals Ratiopharm) sind aktuell nicht nur Schmerzmittel und Antibiotika Mangelware, „sondern auch viele Medikamente weiterer Indikationen, wie etwa Krebstherapien oder Medikamente gegen kardiovaskuläre Erkrankungen“. Teva versuche schon länger, die Produktionskapazitäten zu erweitern, doch die Versorgungslage bleibe auch in den kommenden Monaten „instabil“.

Die Politik versucht gegenzusteuern. Ende Juli hat der Bundestag das Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz, kurz ALBVVG, verabschiedet. Es sieht beispielsweise vor, bei Kinderarzneimitteln Festbeträge und Rabattverträge abzuschaffen. Antibiotika mit Wirkstoffen aus EU-Produktion sollen bei Kassenverträgen stärker berücksichtigt werden, zudem gibt es mehr Geld für Reserveantibiotika. Apotheken dürfen nicht verfügbare Arzneien einfacher gegen andere austauschen. Für bestimmte Arzneimittel schreibt das Gesetz eine „Bevorratungspflicht“ vor.

Es gibt Kritik am neuen Gesetz

Das neue Gesetz ruft unterschiedliche Reaktionen hervor. Für Peter Sölkner, Geschäftsführer des Ravensburger Pharmaunternehmens Vetter, geht es „in die richtige Richtung“, um die Versorgungssicherheit zu erhöhen. Ein Strukturmangel aber bleibe: Heute würden „rund 80 Prozent aller in Europa eingesetzten Wirkstoffe außerhalb Europas produziert. Vor 20 Jahren war es noch umgekehrt.“ Eine Rückholung von Produktionen habe „ihren Preis“. Die Landesapothekerkammer Baden-Württemberg wiederum hält vom neuen Gesetz nicht viel, es sei „nicht dazu geeignet, die Problematik von Grund auf zu bekämpfen“. Das neue Abgabeverfahren sei für die Apotheker„kompliziert und aufwendig“. Wirksamer wäre es, so die Kammer, Hersteller würden Lieferengpässe schneller ans Bundesinstitut für Arzneimittel melden, damit auch schneller reagiert werden könnte.

Dieser Meinung ist auch der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) mit Sitz in Berlin. Die Kassen kritisieren, dass lediglich Pharmaunternehmen Lieferengpässe melden müssen, nicht aber der pharmazeutische Großhandel und die Apotheken. Das aber sei nötig für ein „permanentes, anlassloses Monitoring bei allen Arzneimitteln mit dem Ziel, präventiv zu wirken“. Engpässe könnten mittels einer Software dann schon in den Arztpraxen zum Zeitpunkt der Verordnung berücksichtigt werden. Mit Datum vom 21. Oktober, so die Kassenvereinigung, seien 512 Lieferengpässe bekannt gewesen. Gut möglich jedoch, dass es in Wirklichkeit viel mehr seien.

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Erstellt:
25. Oktober 2023, 14:04 Uhr
Aktualisiert:
25. Oktober 2023, 14:35 Uhr

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