Krieg in der Ukraine

Ziel Tokmak, Tor zum Asowschen Meer

Seitdem ukrainische Truppen vergangene Woche das 480-Seelen-Nest Robotyne von den russischen Besatzern zurückerobert haben, kommt die Front im Süden des Landes ins Wanken. Die russischen Kommandeure scheinen kaum noch über Reserven zu verfügen.

Ein ukrainischer Soldat begrüßt nach der Befreiung von Robotyne eine Dorfbewohnerin.

© IMAGO/Cover-Images/IMAGO

Ein ukrainischer Soldat begrüßt nach der Befreiung von Robotyne eine Dorfbewohnerin.

Von Franz Feyder

Nur wenige haben daran geglaubt: Wochenlang kam die vor allem in Westeuropa und den USA herbeigesehnte Gegenoffensive der Ukraine nur sehr langsam voran. Seit Juni kaum Geländegewinne. Südwestlich von Saprorischschja rund um das einmal 480 Seelen zählende Dörfchen Robotyne kämpften sich 24 000 Ukrainerinnen und Ukrainer drei Wochen lang durch Minenfelder, Schützengrabensysteme, Panzergräben und Hinterhalte, um 1,6 Kilometer tief in die Stellungen der russischen Besatzer einzudringen. Bis vergangene Woche. Da durchbrachen sechs ukrainische Brigaden die russische Front bei Robotyne, eroberten das völlig zerstörte Nest zurück. Seitdem kommt die Front in Bewegung.

Was passiert rund um Robotyne?

Drei ukrainische Luftlandebrigaden, die 46., 78. und 82., sowie die 47. Panzergrenadierbrigade haben seit vergangenem Wochenende die russische Front aufgerissen und sind nach Osten und Südosten vorgestoßen. Die Kommandeure der beiden in diesem Raum verteidigenden russischen 35. und 58. Armee versuchen mit eilig herbeigekarrten Reserven, den Durchbruch durch die zweite von insgesamt drei festungsartig ausgebauten Verteidigungslinien zu verhindern. Bislang ohne Erfolg.

Haben die russischen Streitkräfte noch Reserven?

Wer die seit einer Woche rund um Robotyne tobende Schlacht bewertet, kommt zu dem Schluss: Russland scheint keine strategischen Reserven mehr zu haben, also Truppenverbände, die für den Oberbefehlshaber frei verfügbar sind, um damit seine eigene Idee eines Gefechtes zu realisieren. Den drohenden Durchbruch versuchen die Kommandeure mit Reserven zu kontern, die sie an anderen Stellen der Front abziehen. So bemüht man sich, im Raum Robotyne die Front mit fünf eilig herbeigekarrten Luftlanderegimentern, etwa 12 000 Soldaten, zu stabilisieren. Dadurch kommt die Front beispielsweise im Raum um Bachmut und der Kleinstadt Wuhledar zwischen Robotyne und Bachmut ins Wanken. Ukrainische Truppen drangen am Donnerstagabend in einen Vorort der Millionenstadt Donezk ein, Hauptstadt eines der beiden abtrünnigen ukrainischen Regierungsbezirke, die sich im Februar 2022 Russland anschlossen.

Wie verlaufen die Kämpfe?

Im Telefon- und Videogesprächen mit unserer Zeitung berichten die Soldaten aus dem Raum Robotyne von sehr heftigen Kämpfen. Das Problem, so schildern sie, seien weniger die russischen Schützengräben. Gefährlich seien die Baumreihen, die die riesigen Felder begrenzten. „Das ist ein Kampf, wie er 1944 in der Normandie getobt haben muss. In den Baumreihen versteckt sind kleine Trupps mit Panzerabwehrlenkraketen, die bis zu 2500 Meter weit reichen. Oder Maschinengewehre und Scharfschützen, die uns aus 800 Metern beschießen“, erklärt ein Offizier der 82. Luftlandebrigade, die mit deutschen Marder-Schützenpanzern und britischen Kampfpanzern Challenger ausgerüstet sind. In der Normandie verzögerte sich 1944 der Alliierten-Vormarsch deshalb, weil sich deutsche Verbände in den Felder und Obstplantagen begrenzenden Baum- und Buschreihen versteckten und die vorrückenden US-Truppen immer wieder aus dem Hinterhalt beschossen.

Was ist das Ziel des ukrainischen Angriffs?

Erstes Ziel des ukrainischen Generalstabs scheint es zu sein, die einmal 32 000 Einwohner zählende Stadt Tokmak zurückzuerobern. Damit wären die drei Verteidigungslinien durchstoßen, die russische Soldaten etwa 40 Kilometer tief ab der Front angelegt haben. Der Verkehrsknotenpunkt Tokmak ist von hohem operativem Wert für die ukrainischen Truppen. Seine Kontrolle würde das Tor zur 155 000 Einwohner zählenden Stadt Melitopol und das Asowsche Meer aufstoßen. Die von den Russen besetzte Südukraine wäre in eine Krim- und eine Donbasshälfte gespalten, die Versorgung beider Gebiete mit Lebensmitteln, Munition, Treibstoff und neuen Gefechtsfahrzeugen nur sehr schwer zu organisieren.

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Erstellt:
1. September 2023, 14:56 Uhr

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