Zwei Zeugen glauben, einen Wolf gesehen zu haben

Hans-Joachim Bek, der Wildtierbeauftragte des Rems-Murr-Kreises, ordnet die gemeldeten Sichtungen von Rudersberg ein

Wolf. Symbolfoto: Pixabay

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Wolf. Symbolfoto: Pixabay

Von Peter Schwarz

RUDERSBERG. Ja, bestätigt Hans-Joachim Bek, Wildtierbeauftragter beim Landratsamt Rems-Murr-Kreis: Zwei Leute haben sich in den vergangenen Tagen gemeldet, unabhängig voneinander; beide glauben, eventuell einen Wolf gesehen zu haben bei Rudersberg. Kann das sein? „Nicht ausgeschlossen“, sagt Bek, allerdings „eher unwahrscheinlich“.

Was ist geschehen?

Juristisch ausgedrückt: Die Beweislage ist dünn. Es gibt nur die zwei Augenzeugenberichte, keine Fotos, Genproben oder sonstigen Spuren. Im einen Fall soll der Wolf, falls es einer war, dicht an der Wohnbebauung am Rudersberger Westrand vorbeigestromert sein.

Ein Wolf bei uns – kann das sein?

„Grundsätzlich immer“, sagt Bek, „hier sind 100-prozentig schon einige durchgezogen, von denen wir nichts mitgekriegt haben.“ 2017 wurde im Schluchsee südöstlich von Freiburg ein erschossener Wolf gefunden. Seine Herkunft ließ sich zweifelsfrei rekonstruieren: Er entstammte einem Rudel aus der Gegend von Schneverdingen in Niedersachsen, hatte also rund 800 Kilometer durch fast ganz Deutschland zurückgelegt, war wochen- oder monatelang unterwegs gewesen und dabei „nie in Erscheinung getreten“. Wölfe leben nur 200 oder 300 Kilometer entfernt von Rudersberg: im Nürnberger Land, im schweizerischen Calanda-Gebirge, in den ostfranzösischen Vogesen. Dass es ein Tier von dort hierher verschlägt: „nicht ausgeschlossen“. Allerdings: Im Rudersberger Fall hält Bek das für „relativ unwahrscheinlich“.

Warum unwahrscheinlich?

Die beiden Sichtungen fanden an verschiedenen Tagen statt; demnach wäre das Tier länger in der Gegend gewesen oder gar noch da. Dann aber hätte der Zuwanderer eigentlich mittlerweile auffallen müssen. Es gibt „viele Kleinschäfereien“ im Welzheimer Wald, naheliegende Anlaufstellen für einen hungrigen Reisenden, der auf Nahrungssuche gern „den einfachsten Weg“ geht. Meldungen von gerissenen Lämmern aber liegen nicht vor. Viele Jäger haben Wildtierkameras aufgehängt an einschlägigen Stellen, wo Rehe sich blicken lassen, die Hauptbeute des Wolfs – in eine Fotofalle ist keiner getappt.

Bleiben dennoch Restzweifel?

Ja. Denn bei Weitem nicht alle Wölfe werden „übergriffig gegen Nutztiere“. Ein Wolf in Deutschland – Kotanalysen haben das gezeigt – frisst selten Schafe, meist Rehe, Hasen, Frischlinge, auch Mäuse. „Fallwild“, also verendete, kranke, bei einem Autounfall verletzte Wildtiere: „Das räumt der alles auf.“ Der Mensch erfährt davon im Zweifel nie. Und: Aktuell ist in Baden-Württemberg neben einem im Nordschwarzwald sesshaft gewordenen Tier tatsächlich noch mindestens ein anderes „unterwegs“ und mehrmals „in Kameras reingelaufen“, zum Beispiel bei Bartholomä, etwa 50 Kilometer von Rudersberg entfernt – eine Tagestour für einen Wolf.

Wolf beim Wohngebiet denkbar?

Wer mal im Tierpark Bad Mergentheim erlebt hat, wie lautlos die Wölfe bei der Fütterung aus dem Unterholz kommen – grade war noch nicht das kleinste Ohrspitzchen von ihnen zu sehen, plötzlich stehen sie auf der Lichtung wie herbeigebeamt –, der folgert: Die sind irre scheu. Jein, kommentiert Bek. Sicher, Wölfe können sich unsichtbar machen, aber in Deutschland sind sie längst an Menschen gewöhnt, „sie kennen unseren Geruch.“ Wenn eine Siedlung auf ihrem Wanderweg liegt, kann es geschehen, dass „die da durchlaufen“. Keine Angst, sagt Bek: „Wir gehören zum Inventar“, aber „nicht zum Beutespektrum“.

Und nun – was tun?

Angenommen, ein Schäfer im Welzheimer Wald würde ein gerissenes Schaf melden, dann nähme Bek per Wattestäbchen eine Speichelprobe und schickte sie zur Genanalyse ins Senckenberg-Institut nach Frankfurt. Dort laufen alle Proben aus Deutschland zusammen. So ließe sich nicht nur klären, ob ein Wolf dahintersteckt, sondern mit etwas Glück gar seine Reiseroute nachzeichnen. Bis auf Weiteres indes gilt: Bek nimmt die Zeugenberichte „zur Kenntnis“, ergreift aber „keine Maßnahmen“.

Ist der Wolf denn nicht ein Rudeltier?

Ob wir einen Jack-London-Roman lesen, einen Dokumentarfilm über Kanada sehen oder den Tierpark Bad Mergentheim besuchen – überall begegnen wir Wolfsrudeln mit 30, 40 oder mehr Tieren; und entwickeln „falsche Vorstellungen“, sagt Bek. Auch in Deutschland gibt es zwar Rudel, sie bestehen aber aus „einem Vatertier, einem Muttertier, den Jungtieren vom Vorjahr und den Welpen“. Weil die Welpensterblichkeit hoch ist, sind selten mehr als acht, neun Tiere beisammen. Nach zwei Jahren begeben sich die Jungwölfe auf Wanderschaft und suchen ein eigenes Revier. Falls sie ein Weibchen finden, kann daraus eines Tages eine neue Familie werden.

Ist der Wolf gefährlich für Menschen?

Klares Nein: Die „weitverbreitete Angst“ vor dem sogenannten bösen Wolf – Bek nennt es „das Rotkäppchensyndrom“ – ist „völlig unberechtigt“, die Rudersberger mögen sich bitte „überhaupt keine Sorgen“ machen und entspannt weiterhin spazieren, radeln, joggen. In den vergangenen 20 Jahren gab es in Deutschland „keinen einzigen Zwischenfall“, bei dem ein Wolf einen Menschen angegriffen hätte. Dagegen werden Jahr für Jahr Zehntausende von Hundebissen verletzt; ein, zwei, fünf, sechs Leute sterben jährlich an den Folgen.

Ist der Mensch gefährlich für Wölfe?

Klares Ja. Ein Wolf auf Wanderschaft riskiert sein Leben: „Der Großteil“, sagt Hans-Joachim Bek, „wird überfahren.“ Im Jahr 2019 wurden in Deutschland 67 tote Wölfe gefunden, 57 von ihnen waren Autos zum Opfer gefallen.

Info
Der deutsche Wolf

Lange Zeit galt der Wolf in Deutschland als ausgestorben, nur ganz selten wurden zugewanderte Einzelgänger gesichtet – im Jahr 2000 aber gelang in Sachsen erstmals wieder frei lebenden Wölfen eine erfolgreiche Welpenaufzucht. Seitdem hat der Bestand stetig zugenommen.

Die „Dokumentations- und Beratungsstelle des Bundes zum Thema Wolf“ verzeichnet aktuell 73 Rudel, fünf Paare und zehn territoriale (also in einer Gegend sesshaft gewordene) Einzeltiere. Die allermeisten leben in Brandenburg, Niedersachsen, Sachsen und Sachsen-Anhalt.

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Erstellt:
20. Juli 2019, 06:00 Uhr

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