Turmgespräch mit Susanne Maier vom Deutschen Frauenrat: „Wir haben noch viel zu tun“

Turmgespräche Im Interview wirft sie einen Blick auf den Stand der Gleichberechtigung in Deutschland und verrät, welche Wünsche sie für die Zukunft hat.

Vom Turm aus blickt Susanne Maier (links) im Gespräch mit Lorena Greppo auf Orte in Backnang, die sie gerne besucht. Fotos: Alexander Becher

© Alexander Becher

Vom Turm aus blickt Susanne Maier (links) im Gespräch mit Lorena Greppo auf Orte in Backnang, die sie gerne besucht. Fotos: Alexander Becher

Wer sich für Gleichstellung einsetzt – und das tun Sie ja –, macht sich folglich auch gegen Benachteiligung stark. Wo haben denn Frauen im Alltag mit Benachteiligung zu kämpfen?

Ich würde spontan sagen: Bei allem. Einen großen Anteil hat die Verteilung von Sorgearbeit. Das ist die Mutter der Benachteiligung, weil daraus solche Geschichten wie der Gender-Pay-Gap, also die Gehaltsdifferenz zwischen den Geschlechtern, und der Gender-Pension-Gap, also die Rentenlücke, erwachsen. Dann haben wir Zuschreibungen aufgrund des Geschlechts. Etwa nehmen wir Frauen häufig als weniger kompetent wahr als Männer. All diese Rollenzuschreibungen sind für Frauen, aber auch für Männer beschneidend. Etwa wird engagierten Vätern oft weniger zugetraut.

Viele Aspekte sind schon so normal geworden, dass viele Frauen sie nicht hinterfragen. Wann haben Sie angefangen, sich damit auseinanderzusetzen?

Als ich selbst Mutter geworden bin. Vorher bin ich davon ausgegangen: Frauen müssen einfach doppelt so hart arbeiten. Als ich dann ein Baby hatte, ist mir bewusst geworden: Ich bin unfassbar müde und erschöpft und ich kann diese Erwartungen nicht erfüllen. Da traf es mich mit Wucht. Diese Erwartungshaltung, die ich immer als gesetzt angenommen hatte, ist unhaltbar. Wir haben eine unfassbare Schieflage, die müssen wir beseitigen. Das geht nicht, indem Frauen doppelt so hart arbeiten, sondern indem wir Rahmenbedingungen verändern.

Sie sind Mitglied im Vorstand des Deutschen Frauenrats, der größten frauen- und gleichstellungspolitischen Interessenvertretung in Deutschland. Wie sind Sie dazu gekommen?

Ich bin in einem Mitgliedsverband des Frauenrats aktiv, im Business and Professional Women Club Germany. Im Frauenrat setzen wir uns Schwerpunktthemen, die wir aus frauen- und gleichstellungspolitischer Perspektive beackern möchten. Ich habe mich auf die Mitarbeit im Fachausschuss Frauenarmut beworben und diesen leite ich jetzt. In diese Position bin ich demokratisch in der Versammlung von 120 Delegierten gewählt worden.

Apropos Wahlen: Vom Turm aus hat man einen guten Blick auf das Backnanger Rathaus. Als 2021 der neue Oberbürgermeister gewählt wurde, war im achtköpfigen Bewerberfeld nur eine Frau. Hat Sie das überrascht?

Das hat mich überhaupt nicht überrascht. Im Gegenteil, es überrascht traurigerweise eher, dass überhaupt eine Frau dabei war.

Der Frauenanteil im Deutschen Bundestag liegt bei knapp unter 35 Prozent. Im Landesparlament Baden-Württembergs sogar nur bei knapp 30 Prozent. Woran liegt es, dass weniger Frauen in politischen Ämtern sind?

Dafür gibt es viele Gründe. Politische Ämter brauchen viel Zeit und Frauen haben gemeinhin Besseres zu tun. Wer Kinder hat oder Angehörige pflegt, hat für Politik keine Zeit. Hinzu kommt, das wissen wir aus diversen Befragungen, dass viele Frauen davon ausgehen, dass die Anfeindungen so massiv sind, dass sie sagen: Damit möchte ich meine Zeit nicht verbringen. Was auch eine Rolle spielt: Wie sind wir sozialisiert, was halten wir für erreichbar? Wir gehen oft davon aus, dass Frauen das nicht können. Auch die Rahmenbedingungen und der Ton in der Politik sind nicht gerade einladend.

Sehen Sie denn diesbezüglich eine Entwicklung? Tut sich was?

Ja, viele Organisationen tun etwas dafür. Alle demokratischen Parteien, die mir bekannt sind, haben Frauenförderprogramme, bieten Coachings und Ähnliches an. Was mir dabei fehlt: Wir doktern immer an den Frauen herum. Wir sagen ihnen: Sei gemeiner, sei direkter, hau auf den Tisch. Kaum ein Gedanke geht dahin: Wie können wir das System besser machen?

„Wie können wir das System besser machen?“ – Diese Frage sollte man sich in Bezug auf die Gleichstellung öfter stellen, findet Susanne Maier.

© Alexander Becher

„Wie können wir das System besser machen?“ – Diese Frage sollte man sich in Bezug auf die Gleichstellung öfter stellen, findet Susanne Maier.

Merkt man es der Arbeit der Gremien an, wenn Frauen unterrepräsentiert sind? Ist die Politik, die in Deutschland gemacht wird, männlich geprägt?

Auf jeden Fall. Dafür gibt es viele Beispiele. Stadtplanung etwa ist ein männlich dominiertes Feld. Auch hier in Backnang. Ich ärger mich regelmäßig, wenn ich mit Kind und Kinderwagen, manchmal noch Einkäufen durch die Stadt gehe. Man steht gefühlt alle 50 Meter vor Treppen. Das würde, glaube ich, nicht passieren, wenn in den Planungsgremien Menschen säßen, die wissen, wie es ist, mit Kind, Kinderwagen und Einkauf vor einer Treppe zu stehen.

Machen Frauen anders Politik?

Ich würde unter Vorbehalt bejahen. Frauen werden ganz anders erzogen. Wir sollen freundlich sein und zurückhaltend und im Zweifel nachgeben. Wir sind oft diejenigen, die die Fürsorgearbeit leisten, selbst im beruflichen Kontext. Viele Frauen sind in familien- und sozialpolitischen Themen unterwegs. Andererseits sind Sicherheit und Verteidigung männerdominierte Felder – weniger weil das die natürlichen Begabungen sind, sondern weil wir so sozialisiert worden sind.

Eine Frauenquote wird immer wieder diskutiert. Wie stehen Sie dazu?

Ich bin pro Quote. Über die Ausgestaltung kann man diskutieren. Doch die Gleichstellung der Geschlechter steht seit Gründung der Bundesrepublik im Grundgesetz. Wir haben sie aber immer noch nicht erreicht. Ich glaube, dass wir die Quote als Hilfsmittel brauchen, um zu verlernen, was wir so lange angenommen haben: Dass Frauen das nicht können und auch nicht wollen.

Sie haben es eben angesprochen: Gleichstellung ist gesetzlich verankert. Die Realität sieht oft anders aus. Wie weit sind wir wirklich?

Das kommt immer darauf an, welche Bereiche man sich anschaut. Wenn wir uns Frauen in Führungspositionen anschauen, dann können wir nur neidvoll gen Skandinavien blicken. Es ginge oftmals besser. Das zeigen Aspekte wie der Gender-Pay-Gap und der Gender-Pension-Gap, wo wir auch im OECD-Vergleich eher mittelmäßig dastehen. Deswegen: Es tut sich was, aber wir haben noch viel zu tun.

In welchen Bereichen müssen Frauen noch die dicksten Bretter bohren?

Ein Bereich, in dem wir uns sehr schwertun, ist die Mütterdiskriminierung. Allein damit angefangen, dass das nach dem allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz überhaupt kein Diskriminierungsmerkmal ist. Das ist ein Riesenproblem, weil es eine ganze Schleife nach sich zieht – etwa finanzielle Abhängigkeit. Wo Deutschland meiner Meinung nach zu wenig tut, ist Gewaltschutz. Das ist eine Thematik, mit der man wohl keinen Sympathiepreis gewinnt, was uns aber nicht von der Pflicht entbindet.

Der Frauenrat weist darauf hin, dass Frauen ein höheres Risiko für Armut haben. Woran liegt das?

Da zirkeln wir wieder um die Sorgearbeit und um Mehrfachdiskriminierung. Wenn ich zum Beispiel nicht nur Frau bin, sondern zudem einen Migrationshintergrund habe, alleinerziehende Mutter bin oder eine Behinderung habe. All das sind Faktoren, die es noch viel, viel schwieriger machen, sich aus Armut rauszukämpfen.

Was könnte man denn dagegen tun? Wo kann man ansetzen?

Da gibt es zwei große Bereiche: Was können wir alle individuell tun und was muss sich strukturell ändern? Individuell können wir darauf achten, nicht schon Kindergartenkindern enge Vorstellungen von ‚typisch Mädchen‘ und ‚typisch Junge‘ mitzugeben oder uns zu informieren, wie wir Arbeits- und Elternzeit als Paar planen. Strukturell brauchen wir zum Beispiel gute Finanzbildung, die auch Rollenverhalten im Blick hat, und schlagkräftige Gesetze rund um Chancengleichheit. Die dürfen nicht nur in der Theorie gerecht sein, sondern sollten Gerechtigkeit auch in der Praxis fördern. Das Ehegattensplitting zum Beispiel klingt in der Theorie neutral, in der Praxis ist es ein riesiger Hemmschuh für wirtschaftliche Unabhängigkeit.

Stattdessen ist um das Gendern eine unheimlich hitzige Debatte entfacht. Ist das Ihrer Meinung nach ein Nebenkriegsschauplatz oder essenzieller Teil der Gleichberechtigung?

Ich gendere, finde die Debatte aber frustrierend. Ich würde nicht sagen, dass es ein Nebenkriegsschauplatz ist, weil sprachliche Repräsentation eine große Rolle spielt. Eine Studie hat nachgewiesen: Wenn Berufsbezeichnungen gegendert werden, wirken diese Berufe für Mädchen erreichbarer. Gleichwohl: Sprache verändert sich immer. Gendersensible Sprache ist kein Sprachwandel von oben herab, was oft unterstellt wird. Es zwingt uns keiner zu gendern. Ich würde mir mehr Gelassenheit in der Debatte wünschen.

Sind solche Debatten für Sie nicht auch manchmal ermüdend?

Was heißt manchmal (lacht)? Ich schwanke grundsätzlich zwischen Feuereifer, dass sich endlich alles ändern muss, und der Frustration, dass wir immer noch über so etwas sprechen müssen. So geht es wohl allen Menschen, die aktivistisch tätig sind. Es gibt aber immer wieder Momente, wo ich denke: Ich weiß, warum ich das mache.

Welche Erfolge haben Frauen in den vergangenen Jahren erreicht, die anderen vielleicht Mut machen können?

Ganz aktuell: Die Tatsache, dass die EU der Istanbul-Konvention beigetreten ist. Ich finde, das ist eine unfassbare Errungenschaft. Sehr wichtig finde ich auch den Wegfall des Werbeverbots für Schwangerschaftsabbrüche. Es ist Bewegung in dem Thema. Wir sehen eine Debatte um die Freistellung der zweiten Elternteile nach der Geburt, eine Debatte um das Selbstbestimmungsgesetz, was auch ein frauenpolitisches Thema ist, weil es um alle Frauen gehen muss, wenn wir Gleichstellungspolitik machen. Wir sehen Frauen im Spitzensport. Frauenfußball ist unfassbar populär geworden. Und die gesellschaftlichen Debatten verändern sich. Wir haben immer mehr Menschen, die diese Themen auf dem Schirm haben. Und das ist der erste Schritt. Damit stellt sich durch alle Instanzen früher oder später Veränderung ein.

Das Gespräch führte Lorena Greppo.

Blick vom Turm

Backnang mit Kind 2019 ist Susanne Maier nach Backnang gezogen, damals war ihre Tochter ein halbes Jahr alt. Die Stadt hat sich ihr daher stets als Mutter erschlossen. Vom Stadtturm aus erblickt sie beispielsweise das Hofcafé Kusinchen des Biolandhofs Adrion. Für sie ist das Café der schönste Ort Backnang, um mit Kindern unterwegs zu sein – und leckeren Kuchen zu essen!

Stationen im Leben Susanne Maier kommt aus Müllheim, das zwischen Freiburg und Basel liegt. Sie hat in Freiburg und Erlangen Geschichte und Sprachwissenschaften studiert und 2019 mit Master abgeschlossen. Aktuell arbeitet sie an der Hochschule Ludwigsburg als Referentin für Gleichstellung.

Der Deutsche Frauenrat Seit 1951 engagiert sich der Frauenrat für die Gleichstellung von Frauen und Männern in allen Lebensbereichen. Susanne Maier ist seit 2022 Leiterin des Fachausschusses Armut.

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Erstellt:
3. Juli 2023, 06:00 Uhr

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