Böse Kommentare fürs Nudelabtasten

Sehbehinderte und blinde Menschen wie Jennifer Schweder trifft die Corona-Pandemie besonders hart. Abstandsmarkierungen am Boden können sie mit dem Stock nicht ertasten, Hinweisschilder mit Pfeilen nicht sehen.

Böse Kommentare fürs Nudelabtasten

Alltagssituation in Corona-Zeiten am Supermarkteingang: Blinde und Sehbehinderte können Vorschriftsschilder nicht lesen. Foto: A. Palmizi

Von Heidrun Gehrke

WINNENDEN. Die Pandemie trifft uns alle, aber Sehbehinderte und blinde Menschen trifft Corona besonders hart: Jennifer Schweder ist seit ihrer Kindheit fast blind. Seit drei Jahren wird sie von Blindenführhund Sammy begleitet. Seit Corona steht sie vor neuen Problemen. Oft hakt es im öffentlichen Nahverkehr und beim Einkaufen.

Seit die Linienbusse nur noch die Hintertüren öffnen, kann Jennifer Schweder den Busfahrer nicht mehr nach der Linie fragen. Wenn der Bus hält, steht die sehbehinderte Frau vor der verschlossenen Vordertüre; auf einem für Blinde an vielen Bushaltestellen eingerichteten „Aufmerksamkeitsfeld“. Der Kontakt zum Busfahrer fehlt. „Ich kann ja die Busnummer nicht lesen und habe bisher immer in die offene Bustüre reingerufen“, erzählt sie. Auch mitwartende Personen könne sie nicht immer fragen. „In der Zeit, als nur wenig Menschen unterwegs waren, konnte ich mich nicht bemerkbar machen.“

Nicht nur einmal ist Jennifer Schweder in den falschen Bus eingestiegen.

Nicht nur einmal sei sie in den falschen Bus eingestiegen. Inzwischen fotografiert sie mit dem Handy die Anzeige an der Bushaltestelle. Wenn sie das Bild ganz hochzoomt, könne sie die kommenden Busnummern noch erkennen. Jennifer lebt seit ihrer Geburt mit der „Leberschen kongenialen Amaurose“, einer angeborenen Erbkrankheit. Ihre Sehfähigkeit liegt bei zwei Prozent. „Früher war mein Sehen noch deutlich besser.

Da die Erkrankung einen progressiven Verlauf hat, hat sich die Sehfähigkeit im Laufe der Zeit verschlechtert“, erzählt sie. Sobald es dämmert, verschwinden ihre verbliebenen Rest-Sehinseln in Schwärze. Sie ist nachtblind. Der Schein einer Straßenlaterne reiche ihr nicht aus, um etwa einen Busfahrplan lesen oder sich ohne Blindenlangstock orientieren zu können. Sie liebt die Sommermonate, weil es dann heller ist. „Wenn ich dann unterwegs bin, komme ich kaum in die Dunkelheit rein.“

Mit zu ihrer Krankheit gehört eine extreme Blendempfindlichkeit. Darum trägt sie im Freien meist eine spezielle Sonnenbrille. Sie lebt mit ihrem Mann und den beiden Kindern in Haubersbronn. Er arbeitet in Vollzeit, sie hat viele Corona-Wochen mit Homeschooling bewerkstelligt, bevor die Kinder in die Notbetreuung konnten. Eigentlich war ihr diese „Ausnahmeregel“ unangenehm. „Ich mag nicht Bittsteller sein, aber ich kann eben nicht ins Auto steigen und mit meinen Kindern allein ins Grüne fahren.“ Ihren Alltag managt die 33-Jährige bewundernswert eigenständig. Zur Orientierung ist sie neben der Akustik aber dringend auf das Berühren angewiesen.

„In Aufzügen oder öffentlichen WCs muss ich alles ertasten, dadurch bin ich einem erhöhten Ansteckungsrisiko mit dem Coronavirus ausgesetzt“, erklärt sie. Die Folge: „Man geht in die Vermeidung, unternimmt eben weniger, was ich eigentlich aber nicht will.“ Nach Information des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbands (DBSV) trauen sich zahlreiche Befragte kaum noch aus dem Haus, aus Sorge, etwas falsch zu machen. Der DBSV hat aus Anlass des Sehbehindertentags Anfang Juni mit einer Umfrage ermittelt, welche Probleme im Corona-Alltag von Blinden auftauchen.

Genannt werden Schwierigkeiten mit der Pflicht, einen Einkaufswagen zu benutzen, weil es den Einsatz ihres weißen Stockes unmöglich macht. Weiter heißt es: „Wer im Supermarkt Nudelpackungen abtastet, um die richtige Sorte zu erwischen, muss sich auf böse Kommentare gefasst machen und auch Abstandsmarkierungen, die mit dem Stock nicht ertastet werden können, sorgen für Probleme. Zudem sind viele Bereiche in Geschäften und Arztpraxen mit transparentem Plexiglas verbarrikadiert worden. Sehbehinderte Menschen stoßen sich daran den Kopf und verbringen viel Zeit damit, die Durchreiche zu suchen.“

Das Tragen der Maske raubt blinden Menschen die Wahrnehmung von Gerüchen und das Raumgefühl.

Jennifer Schweders Erlebnisse in jüngster Zeit setzen die Liste fort. „Im Supermarkt sehe ich die Hinweisschilder mit Pfeilen und Bodenmarkierungen nicht.“ Abstandhalten schön und gut: „Ich sehe auch das Ende der Schlange nicht.“ In manche Läden kommt man nur mit Einkaufswagen oder Korb rein - „aber woher weiß ich, wo sie stehen?“ Sie würde sich gerne wie alle Menschen öfter die Hände desinfizieren: „Wo ist der Spender?“ Das Tragen der Mund-Nasen-Bedeckungen raube ihr zudem die Wahrnehmung von Gerüchen und das Raumgefühl: „Ich spüre am Rückschall, ob in der Nähe ein Auto parkt oder ein Baum steht.“

Wegen ihrer Augenkrankheit muss sie eine Kantenfilterbrille tragen, die die Kontraste erhöht. Wenn dieses kleine Fenster in die Welt der Sehenden durch das Masketragen beschlägt, tappe sie in völligem Nebel. Viele Sehbehinderte wünschten sich daher, von der Maskenpflicht befreit zu werden. „Die Coronaschutz-Verordnung enthält keine klare Regelung dazu“, bemängelt sie. Zudem hört sie die Menschen viel schlechter, wenn sie einen Mundschutz tragen oder durch ein Plexiglas sprechen. Sie würde sich über noch mehr hellhörige und aufmerksame Mitmenschen freuen, die sie auf Ein- und Ausgänge, Schilder und geltende Regeln hinweisen, um ihr das „Herumtapsen“ zu ersparen. „Ich werde oft nicht angesprochen, vielleicht aus Rücksicht oder Unwissenheit, aber uns darf man gerne ansprechen“, sagt sie.