„Der Nutzen überwiegt das Restrisiko“

Für Isabella Stein und Reinhard Schmückle ist es ein Glücksfall, dass ärztlich verordneter Rehasport auch in Coronazeiten stattfinden darf. Sie fühlen sich bei der TSG Backnang 1846 gut aufgehoben und betonen die positiven Auswirkungen auf ihre Gesundheit.

„Der Nutzen überwiegt das Restrisiko“

Reinhard Schmückle und Isabella Stein (Mitte) spüren den positiven Effekt des Rehasports auf ihre körperliche Verfassung. Foto: A. Becher

Von Steffen Grün

BACKNANG. Acht Frauen und zwei Männer, die sich zum Lungensport in der Hagenbachhalle eingefunden haben, machen am frühen Freitagmorgen bereits einen ausgeschlafenen Eindruck. Sie lassen ihre Arme kreisen, gehen in die Knie und trippeln auf der Stelle, bis Andrea Leissner das nächste Kommando gibt: „Die Beine ruhig mal etwas höher ziehen.“ Derweil hantiert die Kursleiterin mit dem Handy. Nicht um zu telefonieren, sondern um eine Rumba ertönen zu lassen. Vielleicht ist es ein Samba, wie tanzaffine Teilnehmer einwerfen, aber das ist egal. Es geht um den Spaß an der Bewegung, der von der Musik ebenso unterstützt wird wie von einem Ball, der von der einen in die andere Hand und danach um die Hüfte herumwandert. „Die Brust raus“, fordert Andrea Leissner, „und achtet darauf, dass die Schultern oben bleiben.“

Tiefes Ein- und Ausatmen begleitet die Übungen. Was eigentlich keiner Erwähnung wert ist, lässt einen in der Pandemie unweigerlich an Aerosole denken. „Ich habe überhaupt kein schlechtes Gefühl“, entgegnet Isabella Stein. „Das Hygienekonzept gibt Sicherheit.“ Es sieht unter anderem vor, dass die Umkleiden geschlossen sind und Desinfektionsmittel bereitsteht, dass der Abstand einzuhalten ist und die Masken erst am Platz abgelegt werden. „Ich fühle mich hier sicherer als im Supermarkt“, pflichtet Reinhard Schmückle der Mitstreiterin bei, könnte sich als weitere Maßnahme aber noch Schnelltests vorstellen. „Muss ich mal vorschlagen“, sagt der 63-Jährige und unterstreicht damit, dass von Leichtsinn nicht die Rede sein kann.

„Wir gehören alle zur Hochrisikogruppe“, betont Stein. Sie selbst, weil sie am systemischen Lupus erythematodes leidet – eine Autoimmunerkrankung, die Organe befällt. Die Diagnose wurde 1997 gestellt, seit 2010 ist die Lunge beeinträchtigt, seit 2013 braucht sie zusätzlichen Sauerstoff. Im Prinzip rund um die Uhr, sonst fällt die Sättigung im Blut unter die kritische Marke. Zum Sport nimmt die 55-Jährige die kleinere Flasche mit. Drei Liter sind drin, sie ist „bequemer und leichter zu händeln“ als die große Variante mit sechs Litern. Mitsamt dem transportablen Gerät sowie dem Rucksack wiegt sie aber immer noch rund 4,5 Kilogramm. Mit ihrer Krankheit hadere sie überhaupt nicht, versichert die Althütterin: „Ich habe einen guten Halt im Familien- und im Freundeskreis. Dazu kommt mein Glaube, das gibt mir Kraft.“

Ein klares Echo: Die Teilnehmer wollten unbedingt wieder loslegen.

Wegen des Ansteckungsrestrisikos einen Bogen um die Hagenbachhalle zu machen, ist keine Option. Ihr habe „richtig was gefehlt“, erinnert sich Stein an die Phasen im ersten Lockdown und zuletzt von Dezember bis Ende Februar, als die TSG 1846 pausierte, obwohl ärztlich verordneter Rehasport nie untersagt war. „Ich kann mich entscheiden, am Leben teilzunehmen oder mich komplett zu Hause einzuigeln“, sagt die Mittfünfzigerin und betont die Bedeutung des fixen wöchentlichen Termins. Die Gruppendynamik helfe ihr dabei, den inneren Schweinehund zu besiegen, sich fit zu halten und etwas für das angeschlagene Immunsystem zu tun. Daheim bei Mann, Sohn und Hund finde sie dagegen immer wieder gute Gründe, „nicht zu sporteln“.

Weil es den Trainingspartnern offenbar so ähnlich geht, „war das Echo eindeutig, als wir vom Verein gefragt wurden, ob wir wieder loslegen wollen“. Anfang März war es so weit, auch Reinhard Schmückle freute sich sehr darüber. Ihm sei es ohne Rehasport schlechter gegangen, nach den Einheiten fühle er sich „besser und freier“. Sie würden ihm seinem Ziel näherbringen, „so nahe wie möglich an meinen vorherigen Zustand heranzukommen“. Er spielt damit auf das einschneidende Ereignis an, einen lebensbedrohlichen Covid-19-Verlauf hinter sich zu haben. Das Virus erwischte ihn früh. Mit seiner Frau trat Schmückle die Traumreise – eine Kreuzfahrt von Sydney nach Lima – im März 2020 noch an, doch sie endete im Albtraum. Weil die MS Artania in Neuseeland und auf den Südseeinseln wegen Corona nicht mehr anlegen durfte, war eine 28-tägige Rückreise über den Suezkanal nach Bremerhaven geplant. „Wir dachten, bis wir daheim sind, ist alles vorbei.“ Was für ein Irrtum. Als auf dem Weg zum Tankstopp in Fremantle die Infektion eines bereits von Bord gegangenen Gastes bekannt wurde, offenbarten Tests weitere Fälle. Die Kreuzfahrt war beendet, für das Backnanger Paar und viele andere Deutsche ging es mit dem Flugzeug am 30. März nach Frankfurt und von dort mit Bus und Bahn in die jeweiligen Heimatorte.

Kaum zu Hause, entwickelte Schmückle schwere Symptome wie hohes Fieber und Atemnot. Der Test war positiv, der seiner Frau negativ. Er kann sich noch erinnern, dass ihn der Krankenwagen abholte, „danach weiß ich nichts mehr“. Zwei Wochen lag er mit künstlicher Beatmung im künstlichen Koma, der Krankenhausaufenthalt dauerte über einen Monat. „Die schlimmste Zeit in meinem Leben“, betont der 63-Jährige. Er habe Realität, Traum und Albtraum nicht mehr unterscheiden können. Als er wieder bei sich war und selbstständig atmete, hatte sein Körper stark gelitten. „Ich habe 13 Kilogramm verloren, die Muskulatur war weg und ich konnte nicht laufen“, verrät Schmückle. Auch Sprechen fiel schwer, weil die Stimmbänder vom Beatmungsschlauch in Mitleidenschaft gezogen worden waren. „Ich bin froh, dass ich überlebt habe“, sagt der Backnanger, der mit der Reise nicht hadert, aber ab und zu denkt, „hätten wir es lieber gelassen“.

Mittlerweile geht es ihm viel besser, aber es bleiben Folgeschäden. Der Trigeminusnerv im Kopf hat etwas abbekommen, fürs geschädigte Herz „muss ich Blutverdünnungsmittel nehmen. Die Lunge ist vernarbt, daher habe ich Atem- und Konditionsprobleme.“ Er sei bei 60 bis 65 Prozent des vorherigen Leistungspotenzials, glaubt Schmückle, jedoch habe der Lungensport einen spürbar positiven Effekt auf Kondition, Kraft, Ausdauer und Beweglichkeit. Wichtig seien auch die Gespräche drumherum, darin ist er sich mit Isabella Stein ebenso einig wie im Lob für Andrea Leissner: „Sie macht das toll und mit viel Herzblut.“ Die Kursleiterin habe ständig neue Ideen, bilde sich immer weiter und gebe ihren Schützlingen gute Tipps für daheim. Weil es in der Gruppe mehr Spaß macht, werden die Rehasportler aber auch nächsten Freitag auf den Hagenbach kommen.

Das Hygienekonzept der TSG Backnang umfasst etliche Punkte

„Die Teilnehmer entscheiden selbst, ob sie sich dem Restrisiko aussetzen wollen“, sagt Claudia Krimmer, stellvertretende Vorsitzende der TSG Backnang 1846, zur Fortsetzung des ärztlich verordneten Rehasports in der dritten Coronawelle. Sie bestätigen mit ihrer Unterschrift auch, dass ihnen das Restrisiko bewusst ist und sie bereit sind, die Verhaltens- und Hygieneregeln einzuhalten.

Von 333 Rehasportlern hätten rund 90 Prozent bekundet, dass sie nach dem Neustart am 1. März wieder mitmachen wollen, verrät die TSG-Funktionärin: „Das zeigt, wie wichtig es ihnen ist.“ Gut sieben Wochen ist das her, insgesamt 26 Kurse hat Backnangs größter Sportverein im Repertoire – neben dem Lungensport etwa Gefäßsport, Sport nach Krebs sowie Angebote im orthopädischen und neurologischen Bereich.

„Wir haben ein ausgefeiltes Hygienekonzept“, betont Krimmer. Dazu zählen eine maximale Gruppengröße von 15 Personen, die Teilnahme nur nach Voranmeldung, ein Mindestabstand von 1,50 Metern und eine Maskenpflicht, die nur am eigenen Platz während des Kurses aufgehoben ist. Eine Gymnastikmatte oder ein großes Handtuch ist mitzubringen, benutzte Trainingsutensilien sind zu desinfizieren. Wer Erkältungssymptome hat, bleibt zu Hause. Besucher und Zuschauer sind nicht zugelassen. „Ich schaue immer wieder vorbei, ob alles ordnungsgemäß läuft“, versichert Krimmer. Sobald es das Wetter erlaubt, werden wie vor einem Jahr viele Kurse im Freien stattfinden, „das minimiert das Risiko noch“.

Rehasport bieten in der näheren Umgebung weitere Vereine wie zum Beispiel die SG Sonnenhof Großaspach Turn&Sport oder der TV Murrhardt an. Zusätzliche Informationen gibt es etwa beim Württembergischen Behinderten- und Rehabilitationssportverband unter www.wbrs-online.net.