Doch wieder geöffnet, aber wie lange?

Tanz- und Ballettschulen stehen auf der Liste der Einrichtungen, die in Baden-Württemberg zumindest im November geschlossen bleiben müssen. Eine klare Sache? Nicht unbedingt. So darf etwa Claudia Rüter mitten im Lockdown plötzlich wieder unterrichten.

Doch wieder geöffnet, aber wie lange?

Claudia Rüter war am Anfang der Woche noch alleine in ihrer Backnanger Ballettschule, seit gestern darf sie wieder unterrichten. Foto: A. Becher

Von Steffen Grün

BACKNANG. Ein Wechselbad der Gefühle durchlebt Claudia Rüter in dieser Woche. Am Montag ging die Inhaberin der Ballettschule in Backnang, die ihren Namen trägt, noch davon aus, dass sie die Türen mindestens bis Ende November geschlossen lassen muss. Von „allergrößten Sorgen“ sprach die 51-Jährige und wollte es in doppelter Hinsicht verstanden wissen. Zum einen, weil durch diesen Lockdown, derzeit „null Einnahmen“ zu verzeichnen sind. Derweil laufen die Unkosten weiter, „ob ich die Räume nutze oder nicht“, ergänzte die diplomierte Bühnentänzerin und Tanzpädagogin. Mit Blick auf die angekündigte Umsatzerstattung von 75 Prozent wollte sie sich mit dem Steuerberater unterhalten, „ob ich finanziell besser fahre, wenn ich ein paar wenige Schüler zum Einzelunterricht einlade, was laut der Stadt Backnang weiterhin erlaubt ist, oder wenn ich überhaupt nichts tue“.

Weil das eigene Portemonnaie für Claudia Rüter längst nicht der einzige Antrieb ist, dachte sie aber auch an ihre etwa 110 bis 120 Schützlinge zwischen dreieinhalb und über 70 Jahren, die sie vor allem im Ballett und Modern Jazz Dance schult. Seit 2006 gibt’s auch eine Tanzgruppe für Jugendliche mit Behinderung, noch recht neu ist die Tanzkampfkunst, um mehr Jungs anzulocken. Als der Übungsbetrieb nach dem ersten Lockdown wieder anlief, seien die Kinder und Jugendlichen „kaum noch belastbar“ gewesen, blickte die Ballettschulchefin zurück, auch die Konzentrationsfähigkeit habe stark gelitten. Weil Bewegung als Ausgleich zum langen Sitzen bei Heranwachsenden das wichtigste Element sei, „dürfte das als Allerletztes gestrichen werden“, mahnte sie an. Umso härter traf Rüter kürzlich, als sich „alles gerade wieder eingependelt hatte“, der erneute Lockdown seit Anfang November.

„Es ist ein Riesenchaos – der eine legt es so aus, der andere so.“

Dass die Zwangspause für sie vorzeitig enden könnte, kam völlig überraschend. „Ich bin aus allen Wolken gefallen.“ Als sie am Dienstag eine Freundin und Kollegin in Welzheim besuchte, „hat sie die Tür geöffnet und gesagt, wir dürften wieder unterrichten“, was auf einer Information ihres Verbands beruhte. Sofort telefonierten die beiden Frauen mit den jeweiligen Ordnungsämtern, die ihnen keine Steine in den Weg legten: Schon gestern legten sie wieder los. Dass das nicht für alle Tanz- und Ballettschulen in Baden-Württemberg oder sogar dem ganzen Bundesgebiet gilt, weiß Rüter: „Es ist ein Riesenchaos – der eine legt es so aus, der andere so.“ Die Entscheidung an der Murr folgt der Logik, die „Schule für künstlerischen Bühnentanz“, so der offizielle Untertitel in Rüters Logo, als Kunstschule mit pädagogischem Konzept zu betrachten. Für diese habe es am vergangenen Montag „eine Neuinterpretation“ der Coronaverordnung des Landes gegeben, erklärt Gisela Blumer, die Leiterin des Rechts- und Ordnungsamts in Backnang. Die Änderung besagt, dass an Musik-, Kunst- und Jugendkunstschulen auch Tanz- und Ballettunterricht stattfinden darf, sofern das zu ihrem regulären Angebot gehört und die Hygieneanforderungen erfüllt werden.

Letzteres war der Backnanger Behörde wichtig. Rüter konnte auf ihr bereits ausgearbeitetes Konzept setzen. Das sieht neben der üblichen Desinfektion etwa vor, dass nur eine Gruppe mit zehn Personen vor Ort sein darf. Die Kinder und Jugendlichen dürfen sich so wenig wie möglich bewegen, „um den Aerosolausstoß gering zu halten. Jeder bleibt an seinem Platz, dafür gibt es eigene Bodenmarkierungen.“ Bewegungen durch den Raum sollen unterbleiben, dasselbe gilt für Korrekturen durch Berührung, „das passiert nur verbal“. Klar sei der Unterricht abgespeckt, „aber das ist besser als nichts“, sagt Rüter, die sich aber nichts vormacht. „Wann ist wieder Schluss?“, fragt sich die Tanzpädagogin, die dann abermals zu beklagen hätte, dass ihren Schützlingen in allen Leistungsklassen die Kontinuität fehlt – ungeachtet dessen, dass nicht alle Kinder und Jugendlichen, die eine Ballettschule besuchen, später professionell tanzen oder etwa Musicaldarsteller werden. Einfach auf Online-Angebote umzustellen, sei nicht die Lösung, damit erreiche man Kinder kaum. „Sogar fleißige Teilnehmer habe ich einmal und nie wieder gesehen“, schildert Rüter ihre Erfahrungen aus dem Frühjahr.

Ob sich die Prognose der Ballettschulchefin erfüllt, dass sich weitere Kollegen mit der Bitte an die Ordnungsämter wenden, auch wieder aufmachen zu dürfen, bleibt abzuwarten. In Backnang lag gestern Abend laut Amtschefin Blumer keine weitere Anfrage vor. Von der Dance Intense Factory kommt wohl auch keine. „Wir werden von den Behörden eigentlich nicht zum Kunstbereich gezählt“, betont Marc Sailer, dem die Tanzschule mit Natalie Horoba gehört. In der Aufzählung in der entscheidenden Passage der Landesverordnung fehlt der Begriff „Tanzpädagoge, daher betrifft sie uns nicht“. Das ist seine Sichtweise, dennoch beklagt er, dass die Verordnungen „für Chaos sorgen, jeder kann die Texte anders interpretieren“. Letztlich gehe es aber um die Kontaktbeschränkungen, daher zeigt Sailer gewisses Verständnis für die aktuelle Schließung.

Alternativ „fahren wir das größtmögliche Online-Programm und versuchen, den Kursplan eins zu eins umzusetzen. Nicht zu tanzen, ist keine Lösung.“ Sailer hofft, dass die Mitglieder das als Ersatz sehen, das Engagement honorieren und treu bleiben. „Sie dürfen den ganzen Pool nutzen und nicht nur den Kurs, den sie eigentlich belegt haben.“ Es existiert eine YouTube-Playlist mit über 60 Videos in allen Bereichen – von Kindertanz über Breakdance bis zu Hip-Hop, auch Ballett, Jazz Dance und andere Sparten werden abgedeckt. Ungeachtet dessen würde auch Marc Sailer so wie wohl alle Kollegen lieber heute als morgen wieder richtig durchstarten.

Die Sicht des Deutschen Berufsverbands für Tanzpädagogik und die aktuelle Landesverordnung

Der Deutsche Berufsverband für Tanzpädagogik (DBfT) sieht im künstlerischen Tanz keinen Kontaktsport. Die Abstände könnten „perfekt“ eingehalten werden, der Sektor sei „definitiv kein Treiber der Pandemie“. Laut einer Umfrage unter den Mitgliedern hätten fast alle ein eigenes Hygienekonzept entwickelt und nur fünf Prozent meldeten bislang einen Covid-19-Fall, angeblich aber mit gesicherter Nachverfolgung. 91 Prozent sehen eine Gefahr für die Zukunft ihres Betriebs, sogar 97 Prozent bangen um die gesamte Branche. „Als Folge könnte die flächendeckende künstlerische Vorausbildung, die fester Bestandteil unserer Gesellschaft ist, nicht mehr aufrechterhalten werden.“

In der aktuellen baden-württembergischen Coronaverordnung zählen Tanz- und Ballettschulen eigentlich zu den Einrichtungen, die mindestens im November geschlossen bleiben müssen. Klingt eindeutig, ist es aber offensichtlich nicht, wie ein Blick in die separate Verordnung zum Betrieb der Musikschulen, Kunstschulen und Jugendkunstschulen auf der Internetseite des Kultusministeriums zeigt. Die sind weiterhin geöffnet, weil sie der „musisch-ästhetischen Bildung und Erziehung“ dienen und damit als „Teil des für die Zukunft der Gesellschaft besonders bedeutsamen Bereichs Schule und Bildung“ gelten. Seit vergangenen Montag steht unter den FAQ, den häufig gestellten Fragen, dass Tanz- und Ballettunterricht in diesen Einrichtungen mit Hygieneregeln erlaubt ist, wenn er zum regulären Angebot gehört. Die Verordnung gilt „nicht nur für alle vom Land Baden-Württemberg geförderten öffentlichen und privaten Musikschulen und Jugendkunstschulen, sondern für alle Musikschulen und Kunstschulen“. Und damit auch für freie Musik- und Kunstschulen, private Musik- und Kunstlehrer sowie soloselbstständige Musik- und Kunstpädagogen. Heißt wohl: Tanz- und Ballettschulen, die diese Kriterien erfüllen, dürfen öffnen, der Rest bleibt zu. Aber auch Backnangs Ordnungsamtschefin Gisela Blumer würde sich von Landesseite „eine weitere Präzisierung wünschen“.