Klopapier im Sortiment statt Lockdown

Zwei Inhaberinnen einer Modeboutique satteln um: Sie haben nun eine Delikatessen- und Modeboutique mit Klopapierverkauf. Diese kuriose Sortimentserweiterung soll sie in der dritten Welle vor einem erneuten Lockdown bewahren.

Klopapier im Sortiment statt Lockdown

Ilona Müller und Claudia Weiß erweitern das Sortiment ihrer Modeboutique um Delikatessen und Klopapier, damit diese weiterhin geöffnet bleiben kann.Foto: Michael Kurz

Von Anja La Roche

WEISSACH IM TAL. In der „Modeboutique Ilona und Claudia“ in Weissach im Tal bekommt man neuerdings alles, was das Herz begehrt: Prosecco fürs Frühstück, ein neues Outfit und dazu noch eine Packung Klopapier. Die Inhaberinnen Ilona Müller und Claudia Weiß beobachteten in den vergangenen Tagen mit großer Sorge den steigenden Inzidenzwert. Dabei wurde auch die quälende Frage lauter, wann sie ihr Geschäft wieder schließen müssen. Doch dann riet ihnen ein Angestellter der Industrie- und Handelskammer (IHK) zu einer Sortimentserweiterung. Mit Produkten des täglichen Gebrauchs dürfen sie auch geöffnet bleiben, wenn der Inzidenzwert im Rems-Murr-Kreis über die 100 klettert. Deswegen verkaufen die Frauen seit vergangener Woche neben ihrer Mode auch Lebensmittel wie Öle, Essig, Nudeln, Tomatensoßen — und Klopapier.

Innerhalb von nur drei Tagen holten sie sich die Genehmigung vom zuständigen Ordnungsamt ein und bestellten die neue Ware. Die notwendige Berechtigung für den Verkauf von Lebensmitteln haben Müller und Weiß schon seit vielen Jahren. Dabei sei es für das Ordnungsamt nicht notwendig, dass das Geschäft 60 Prozent ihres Umsatzes mit den Lebensmitteln und dem Klopapier macht, sondern es sei ausreichend, dass 60 Prozent der Ladenfläche mit der entsprechenden Ware für den täglichen Gebrauch bestückt ist.

Scrollt man durch den digitalen Modekatalog der Boutique, erblickt man keine emotionslosen Models, sondern Frauen, die freudestrahlend vor der Kamera ihre Mode präsentieren oder sich lachend in den Armen liegen. Müller und Weiß stehen dafür auch selbst vor der Kamera. Schon seit 30 Jahren betreiben sie das Geschäft — sie kennen ihre Kundschaft, die Kundschaft kennt sie.

Dass es für die langjährigen Modeverkäuferinnen im vergangenen Jahr alles andere als einfach war, ist klar: Der Lockdown zehrte massiv an ihren Einnahmen. Im ersten Lockdown haben die Inhaberinnen zwar Überbrückungshilfe beantragt, und diese auch schnell bewilligt bekommen. Die 9000 Euro mussten sie jedoch wieder zurückzahlen, da sie mit ihren Einnahmen im Lockdown trotzdem noch die Kosten decken konnten. Ihr Verkaufsfleiß mit Online-Modeschauen, kostenlosem Lieferdienst und Produktwerbung per Whats-App-Stories nahm ihnen somit das Recht auf die finanziellen Hilfen— Gewinn machten sie trotzdem nicht.

Die Modeboutique ist nicht alleine mit ihrer Klopapiermasche. Einige Einzelhändler entscheiden sich für dieselbe Vorgehensweise, um einer Schließung zu entgehen. Die Konjunkturumfrage im Dezember und Januar von der IHK Stuttgart, an der 120 Unternehmen im Rems-Murr-Kreis teilnahmen, zeigt eine starke Spaltung des Handels. Während der Großhandel, die Lebensmittelbranche und der Onlinehandel deutliche Zugewinne zum Jahresbeginn verzeichnen, muss der Einzelhandel seit Dezember starke Einbußen hinnehmen. „Insbesondere der Textilhandel liegt am Boden“, so die IHK Stuttgart.

Dass die betroffenen Einzelhändler umsatteln, ist ein Versuch der Selbsthilfe, aber auch ein Signal für die Ungleichbehandlung in der Coronapolitik. Denn je nach Relevanz für die Gesellschaft gelten andere Maßnahmen für das jeweilige Geschäft: Klopapier ist sehr wichtig, Mode eher nicht. Auf Unverständnis stößt dabei vor allem, dass zum Beispiel der Supermarkt von nebenan Klamotten verkaufen darf, während einem Modegeschäft das Gleiche verwehrt wird. Besonders hart trifft es auch kleine Geschäfte wie die Modeboutique Ilona und Claudia. „Für den Onlineverkauf sind wir viel zu klein“, sagt Ilona Müller.

Die Kunden freuen sich darüber, weiterhin im Geschäft einkaufen zu dürfen.

Im vergangenen Jahr hatte die Parfümeriekette Douglas einen vergleichbaren Versuch gestartet und einige Filialen als Drogeriemärkte offen gelassen, obwohl die Regierung den Einzelhandel in den Lockdown orderte. Auf dieses Ausweichmanöver folgte scharfe Kritik, sodass die Douglas-Chefin Tina Müller zurückruderte und auf Twitter alle um Entschuldigung bat, „die wir mit unserem Vorgehen befremdet oder vor den Kopf gestoßen haben“. Die Ausweichmanöver des Einzelhandels scheinen drei Monate später auf größeres Verständnis zu treffen. So sagt Ilona Müller, Inhaberin des Modegeschäfts in Weissach im Tal, dass die Kunden sich freuen würden, weiterhin in ihrer Boutique einkaufen zu können.

Das Ordnungsamt hat die Sortimentsänderung von Müller und Weiß und die damit einhergehende Einstufung als Geschäft für den täglichen Gebrauch erlaubt. Das Sozialministerium hingegen positioniert sich kritisch: „Es handelt sich hierbei um eine unzulässige Umgehung, da der zulässige Sortimentsanteil [...] nur auf dem Papier besteht.“ Das Ministerium begründet dies damit, dass ein Modegeschäft mit Klopapier keinen Verkaufsanteil von 60 Prozent erzielen könne. Bei Weiß und Müller handelt es sich zwar auch um Lebensmittel und nicht nur um Klopapier, bei der Auslegung der Regelungen gibt es aber scheinbar noch Klärungsbedarf.

Die beiden Inhaberinnen der neuen „Delikatessen- und Modeboutique“ sind jedenfalls trotz schwieriger Lage guter Dinge „und sehr dankbar für die Kundentreue“, so Müller. Wenn ihr neues Konzept gut von den Kunden angenommen wird, würden sie auch langfristig als Mischwarenhändler für Delikatessen und Mode ihre Stammkunden bedienen. Die Häppchen zur Modenschau kommen dann vielleicht aus dem eigenen Sortiment. Nur das Klopapier wird vermutlich nicht mehr ins Konzept passen.