Vermeidbares Leid

Auf der Intensivstation des Klinikums in Winnenden ringen 16 schwerkranke Coronapatienten mit dem Tod. Viele von ihnen sind weder alt noch vorerkrankt, aber fast alle sind ungeimpft. Ein Besuch auf der Covid-Station.

Vermeidbares Leid

Schläuche, Infusionen und Apparate bestimmen das Bild auf der Covid-Intensivstation im Winnender Krankenhaus. Behandeln können die Ärzte aber nur die Symptome, ein wirkungsvolles Medikament gegen Covid-19 gibt es bis heute nicht. Fotos: B. Büttner

Von Kornelius Fritz

Winnenden. Auf der Intensivstation im ersten Stock des Klinikums Winnenden ist es gespenstisch ruhig. Die schwer kranken Patienten, die hier liegen, sind in ein künstliches Koma versetzt worden. Das Pfeifen der Beatmungsgeräte ist das einzige Geräusch, das aus den Zimmern dringt. Auf der Theke in der Mitte der Station steht ein kleiner geschmückter Weihnachtsbaum, die Fensterbänke sind mit Tannenzweigen dekoriert. Das Pflegepersonal ist um ein bisschen Normalität bemüht, auch in diesen Zeiten, in denen nichts normal ist.

Zum ersten Mal dürfen heute Reporter der lokalen Zeitungen auf diese Station, natürlich nur in kompletter Schutzausrüstung mit Anzug, Maske und Visier. Andreas Jeron, Chefarzt für Kardiologie und Leiter des Corona-Therapieteams, hat lange gezögert, ob er die Türen für die Presse öffnen soll. Er sagt, er wolle keine Horrorgeschichten in der Zeitung lesen. Keine Artikel über überquellende Intensivstationen, über Pflegekräfte am Rande des Nervenzusammenbruchs oder über die berüchtigte Triage, bei der Ärzte entscheiden müssen, wen sie noch behandeln und wen sie seinem Schicksal überlassen. Denn das alles habe es an den Rems-Murr-Kliniken nie gegeben und Jeron ist sich sicher, dass das auch in dieser vierten Welle nicht passieren wird.

Selbst wenn alle 42 Intensivbetten in Winnenden belegt wären, gäbe es immer noch Möglichkeiten, die Kapazitäten kurzfristig zu erhöhen. Eine intensivmedizinische Betreuung sei beispielsweise auch im Aufwachraum möglich, der sonst nach Operationen genutzt wird. Den einen oder anderen Patienten, der auf dem Weg der Besserung ist, könnte man vielleicht auch auf eine normale Station verlegen. „Wir werden weiterhin alle Notfälle versorgen, und zwar in derselben Qualität wie sonst auch“, verspricht Oberärztin Jutta Franz, die die konservative Intensivstation leitet. Auch dringliche Operationen, etwa bei Tumor- oder Herzpatienten, werden in Winnenden weiterhin durchgeführt. Es gibt also keinen Grund, die angespannte Lage unnötig zu dramatisieren.

Dass das Klinikum trotzdem einen Blick hinter die Kulissen gewährt, hat einen anderen Grund. Andreas Jeron will zeigen, welche Folgen es haben kann, wenn sich Menschen – aus welchen Gründen auch immer – gegen eine Impfung entscheiden. 16 von ihnen liegen zurzeit auf der Intensivstation in Winnenden, der Jüngste ist 40, der Älteste 71. Das Coronavirus hat bei ihnen zu einem akuten Lungenversagen geführt.

In den Betten liegen keine alten, gebrechlichen Menschen an ihrem natürlichen Lebensende, sondern Frauen und Männer, die mitten im Leben standen. Jutta Franz tritt an das Bett eines Mannes mit grauen Haaren: „Schauen Sie hier, dieser Patient ist 57. Er hat weder Vorerkrankungen noch Übergewicht.“ Jetzt hält ihn nur noch das Beatmungsgerät am Leben.

Noch schlechter steht es um den Patienten im Nebenzimmer. Der 45-Jährige hängt an einer künstlichen Lunge, der sogenannten ECMO. In dicken Schläuchen fließt das Blut aus seinem Körper in die Maschine, wird dort mit Sauerstoff angereichert und wieder in den Körper zurückgepumpt. Die schwer entzündete Lunge soll sich in dieser Zeit regenerieren können. Seit mittlerweile 34 Tagen hängt das Leben des Mannes an dieser Maschine. „Würden wir sie abschalten, wäre er in 30 Sekunden tot“, sagt Andreas Jeron. Ob der Familienvater überleben wird, ist aber auch so ungewiss.

Rund 30 Prozent der Covid-Patienten sterben auf der Intensivstation. Am Sonntag vor einer Woche waren es fünf an einem einzigen Tag. Das stecken auch Ärzte und Pflegekräfte, die schon länger hier arbeiten, nicht so einfach weg. Der pflegerische Leiter der Station, Stefan Gräter, spricht von einer „hohen physischen und psychischen Belastung“, die nicht jeder auf Dauer aushält. Einige seiner Kolleginnen und Kollegen haben das Krankenhaus im vergangenen Jahr bereits verlassen, andere ihre Arbeitszeit reduziert. Und bis ein Neuling die hoch spezialisierte Technik auf der Intensivstation beherrscht, dauert es eineinhalb bis zwei Jahre. Für die, die noch dabei sind, gibt es deshalb kaum noch Pausen: Manche haben noch Urlaubstage aus dem Jahr 2019 übrig.

Die Behandlungsmöglichkeiten bei einem schweren Covid-Verlauf sind nach wie vor begrenzt. Neben künstlicher Beatmung bekommen die Betroffenen Medikamente, die aber nur einzelne Symptome bekämpfen. Außerdem werden sie mehrmals täglich vom Rücken auf den Bauch umgelagert, um die Belüftung und die Durchblutung der Lunge zu verbessern. Ansonsten bleibt nur die Hoffnung, dass der Körper sich von selbst erholt.

Die Ärzte und Pflegekräfte auf der Intensivstation sehen solche schweren Krankheitsverläufe seit eineinhalb Jahren und doch ist die Situation jetzt eine völlig andere als zu Beginn der Pandemie: „Damals war die Krankheit Schicksal, jetzt ist sie total unnötig“, sagt Andreas Jeron. „Keiner dieser Patienten müsste hier liegen, wenn er sich im Sommer hätte impfen lassen.“ Trotzdem müssen sich Ungeimpfte im Winnender Krankenhaus keine Vorwürfe anhören. „Wir sind Retter und keine Richter“, sagt der Chefarzt. Und man behandle ja schließlich auch Unfallopfer, die unangeschnallt im Auto unterwegs waren.

Wichtiger ist es ihm, diejenigen zu erreichen, bei denen es noch nicht zu spät ist. Die Behauptung, dass eine Impfung überhaupt nichts bringe, widerlegt der Chefarzt mit nüchternen Zahlen. Seit Beginn der Pandemie gab es in Winnenden lediglich drei vollständig geimpfte Patienten, die wegen einer Covid-Infektion auf die Intensivstation kamen, sie alle hatten laut Jeron schwere Vorerkrankungen.

Dass sich auch Geimpfte infizieren können, bestreitet der Chefarzt nicht: Von derzeit 35 Coronapatienten auf der normalen Infektionsstation sind 15 geimpft. Doch bei genauerer Betrachtung relativiert sich auch diese Zahl, denn lediglich drei von ihnen sind wegen Covid-Symptomen eingeliefert worden. Alle anderen kamen eigentlich wegen anderer Beschwerden ins Krankenhaus, die Coronainfektion wurde bei ihnen erst durch die routinemäßigen Tests bei der Aufnahme festgestellt.

Stefan Gräter kennt die menschlichen Dramen, die sich regelmäßig abspielen, wenn aus der vermeintlich harmlosen Erkältung plötzlich eine lebensbedrohliche Krankheit wird. „Gestandene Männer fangen an zu weinen und machen sich schwere Vorwürfe, weil sie sich nicht haben impfen lassen.“ Mancher fragt sogar, ob er das jetzt noch nachholen kann, doch dafür ist es dann natürlich zu spät. Wenn Stefan Gräter nach Feierabend im Internet selbst ernannte Experten sieht, die Covid-19 als harmlose Grippe darstellen und vor angeblichen Gefahren der Impfung warnen, dann packt ihn die blanke Wut. Denn eines weiß er genau: „Nach ein paar Stunden auf dieser Station ist niemand mehr Querdenker.“

Vermeidbares Leid

Der pflegerische Leiter Stefan Gräter (links), die ärztliche Leiterin Jutta Franz und Chefarzt Andreas Jeron gewähren Einblicke in die Arbeit auf der Intensivstation.

Kommentar
Diese Bilder lassen keinen kalt

Von Kornelius Fritz

In den vergangenen Wochen wurde viel über eine Impfpflicht diskutiert. Noch wirkungsvoller im Kampf gegen die Pandemie wäre es vermutlich, wenn alle Impfgegner und -skeptiker einmal eine Covid-Intensivstation besuchen müssten. Denn die Bilder, die man dort zu sehen bekommt, können niemanden kalt lassen.

Frauen und Männer, die noch keine 50 sind und wenige Tage zuvor fit und gesund waren, liegen nun hilflos in ihren Betten und werden von Maschinen am Leben erhalten. Einige von ihnen werden bald sterben, andere noch viele Monate oder sogar ihr restliches Leben unter den Folgen leiden. Und das Schlimmste daran: Das alles wäre vermeidbar gewesen, wenn sie sich rechtzeitig ihre Impfung geholt hätten. Viele haben ihren Fehler inzwischen bitter bereut. Jetzt können sie und ihre Familien nur noch hoffen und beten.

Millionen andere Ungeimpfte können ihre Entscheidung aber noch korrigieren und sich und ihren Angehörigen damit womöglich viel Leid ersparen. Für einen Sieg der Vernunft ist es niemals zu spät.

k.fritz@bkz.de