Wenn der Zufluchtsort zeitweise wegfällt

Durch die Coronapandemie ist es für Sozialpädagogen und Streetworker in der offenen Jugendarbeit schwieriger geworden, Kinder und Jugendliche zu unterstützen. Gleichzeitig sind mehr Probleme da, berichten Fachkräfte aus dem Jugendzentrum in Murrhardt.

Wenn der Zufluchtsort zeitweise wegfällt

Nico Tolve, Sebastian Frey und Sören Benninger (von links) sitzen im Fernsehbereich des renovierten Jugendzentrums in Murrhardt. Foto: J. Fiedler

Von Melanie Maier

MURRHARDT. Wie die offene Kinder- und Jugendarbeit im Jugendzentrum in Murrhardt vor der Coronapandemie ausgesehen hat, das wissen Nico Tolve, 26, und Sören Benninger, 32, gar nicht so genau. Tolve ist erst seit September 2020 hauptamtlicher Mitarbeiter im Jugendzentrum. Benninger kam einen Monat vor ihm als Streetworker in Teilzeit in die Walterichstadt. Mitten in der Pandemie also.

Vorher, vermuten die beiden, lagen ihre Arbeitswelten etwas weiter auseinander, gab es nicht so viele Überschneidungen ihres Alltags. Die Pandemie hat sie enger zusammengebracht. „Wir haben in den letzten Monaten alles gemeinsam gemacht“, so Tolve. „Wir haben neue digitale Angebote für die Jugendlichen erstellt, sind zu den Plätzen gegangen, an denen sie sich oft aufhalten und haben das Jugendzentrum von Grund auf renoviert.“

Darauf, das merkt man ihm an, ist er ziemlich stolz. Als er neu angefangen hat, haben ihm die Räumlichkeiten nicht gefallen, gibt Tolve unumwunden zu. Jetzt, nach einem Monat hämmern, streichen, spachteln und schleifen, fühlt er sich wohl an seinem Arbeitsplatz.

Aufgrund der ständig wechselnden Coronaregeln musste das Jugendzentrum häufig schließen.

Vielleicht ist das der positive Aspekt der Pandemie für das selbstverwaltete Jugendzentrum in der Oetingerstraße 3, das von neun Jugendlichen ehrenamtlich geleitet wird: Dass endlich einmal Zeit fürs Renovieren da war. Denn aufgrund der ständig wechselnden Coronaregeln musste das Jugendzentrum immer wieder schließen, berichtet Nico Tolve. „Anfangs konnten wir zum Beispiel die Coronaverordnung nicht einhalten, weil wir keine eigene Reinigungskraft hatten.“ Auch das Problem konnte mit einer Kooperation gelöst werden: Das Jugendhilfeprojekt „Arche“ half mit der Reinigungskraft aus und durfte dafür ab und zu Räume des Jugendzentrums nutzen.

Dieses Aushelfen und Miteinander gilt bis heute. Und das sei auch gut so, sagen Tolve und Benninger, denn mit der Pandemie seien die Herausforderungen an die offene Jugendarbeit gestiegen. „Am Anfang war alles unsicher“, erinnert sich Tolve an die Verschärfungen der Regeln und den Lockdown im vergangenen Herbst. Besonders schwierig war es, die Kinder und Jugendlichen überhaupt zu erreichen, sagt Sören Benninger. Vorher war das Jugendzentrum ein offener Ort, an den die Kinder und Jugendlichen kommen konnten, wann sie wollten. Zum Kickern, Brettspiele spielen oder auch nur zum Reden. Phasenweise war das nicht mehr möglich. Gruppenprojekte wie Fußballspielen, Grillen oder Kunstnachmittage sind aktuell noch abgesagt, demnächst wohl aber wieder erlaubt.

„Die Einzelfallhilfe hat aber immer stattgefunden“, sagt Tolve. „Wir haben den Jugendlichen auch angeboten, dass sie mit uns telefonieren können, wenn sie möchten.“ Auch die digitalen Angebote haben er und sein Kollege ausgebaut. Dazu haben sie Plakate aufgehängt, auf denen steht, wie man sie per WhatsApp oder Instagram erreichen kann. Diese Angebote seien zwar eher schleppend angenommen worden. Doch zu wissen, dass die beiden nach wie vor zu ihrem Leben gehören, das war wichtig für die Kinder und Jugendlichen, die meistens eher aus finanziell schwachen Familien kommen, oft einen Migrationshintergrund haben, manchmal von Gewalt betroffen sind oder eine Suchtproblematik mitbringen. Denn das Vertrauen ist die grundlegende Basis für funktionierende Jugendarbeit. „Die Jugendlichen müssen das Gefühl haben, dass sie mit allen Themen bei uns ankommen können“, sagt Tolve. Die Fachkräfte der offenen Jugendarbeit unterliegen daher auch der Schweigepflicht und verstehen sich selbst als Interessenvertreter der Jugendlichen, die sich vor allem um deren Belange kümmern und gegebenenfalls an die richtigen Anlaufstellen vermitteln, zum Beispiel zu einer Suchtberatungsstelle.

Mindestens 25 Kinder und Jugendliche zwischen elf und 21 Jahren schauen pro Tag im Jugendzentrum vorbei, wenn es geöffnet ist, sagt Benninger, manchmal auch 35 oder 40. Für sie ist das Jugendzentrum nicht nur ein Ort, an dem sie Gleichaltrige treffen können, sondern auch eine Anlaufstelle bei Problemen. Tolve und Benninger helfen etwa beim Verfassen von Bewerbungsschreiben, bei Unstimmigkeiten in der Familie oder im Freundeskreis, beim Thema Aufenthaltsrecht oder in psychischen Krisenfällen.

Darüber hinaus verstehen sie sich als wertfreie Gesprächspartner und, auch das kommt vor, als Korrektiv, etwa wenn Jugendliche Verschwörungstheorien über Corona oder auch (rechts-)extremistische Thesen äußern. „Manche Jugendliche sind sehr anfällig gegenüber solchen Theorien“, sagt Sören Benninger. „Wir versuchen, ihnen erst einmal zuzuhören, dann aber auch wissenschaftliche Fakten zu liefern, sie für Falschnachrichten zu sensibilisieren oder auch einfach auf die Regeln hinzuweisen, die bei uns gelten.“

Das Jugendzentrum sehen er und sein Kollege Nico Tolve als wichtigen Lernort, an dem Kindern und Jugendlichen Werte sowie sprachliche und soziale Kompetenzen vermittelt werden. Jugendarbeit, sagt Benninger, habe einen langfristigen volkswirtschaftlichen Nutzen. Etwa weil durch die Unterstützung in der Schule oder bei dem Weg in die Ausbildung Arbeitslosigkeit verhindert wird. „Man muss die Jugendlichen begleiten und an die Hand nehmen“, sagt er. „Das ist das, was sie brauchen. Und das passiert hier.“

Die Eltern haben in vielen Fällen nicht die Möglichkeit, die Bedürfnisse ihrer Kinder abzudecken, erklärt Nico Tolve. Er selbst hat früher viel Zeit in einem Jugendzentrum verbracht. „Mein Vater hätte nicht die Möglichkeit gehabt, mir eine Hausaufgabenbetreuung daheim zu finanzieren“, sagt er. „Weil wir hier auch das oft leisten, gelten wir als eine außerschulische Bildungseinrichtung.“

Der Ertrag sei jedoch immer von der Investition abhängig, betonen Tolve und Benninger: Je mehr Mitarbeitende und je größer das Fortbildungsbudget, desto besser könne man auf die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen eingehen und sie auf ihrem Weg begleiten. Nach der Pandemie brauche es Jugendarbeit mehr denn je, da sind sich beide sicher. Allein schon deshalb, weil nicht jedes Kind mit dem digitalen Homeschooling zurechtgekommen sei, aber auch, weil es durch die Krise schwieriger geworden ist, nach der Schule einen Ausbildungsplatz zu finden. „Die Schere zwischen Arm und Reich kommt jetzt besonders zum Tragen“, sagt Tolve und erzählt von einem Teenager aus Murrhardt, dessen Ausbildungsplatz abgesagt wurde.

Sebastian Frey vom Kreisjugendreferat, das die Fachkräfte berät, ist es daher besonders wichtig, nun bei den Städten und Gemeinden dafür zu werben, mehr Mittel für die Jugendarbeit bereitzustellen: „Ähnlich wie bei Corona profitiert man bei der Jugendarbeit vor allem von Präventionseffekten.“

Wenn der Zufluchtsort zeitweise wegfällt

Die neue Streetwork-App hilft Fachkräften, ihre Rundgänge zu dokumentieren. Foto: LRA

Neue Streetwork-App für Fachkräfte der mobilen Jugendarbeit

Mehr Zeit für Jugendliche schaffen, genauere Aussagen über ihre Lebenswelten treffen und nebenbei einen Beitrag zur besseren Evaluation im Arbeitsfeld Streetwork leisten: Das soll die neu entwickelte Streetwork-App des Kreisjugendamts bewirken.

Bei der App handelt es sich um eine Software zur Dokumentation und Auswertung von Streetwork-Rundgängen. Was vorher händisch notiert und später in eine Excel-Tabelle übertragen wurde, wird nun in einem Rutsch digital per App erfasst. Das spart jede Woche zirka eine halbe Stunde bis Stunde Arbeitszeit, sagt Sören Benninger von der mobilen Jugendarbeit in Murrhardt.

„Unseren Recherchen nach ist es das einzige Tool dieser Art im deutschsprachigen Raum“, sagt Benedikt Seybel, der Projektverantwortliche im Kreisjugendamt. Alle Träger mobiler Jugendarbeit im Landkreis sind mit an Bord. Die Kosten in Höhe von rund 9000 Euro werden zirka zur Hälfte vom Kreisjugendamt und der LAG Mobile Jugendarbeit/Streetwork getragen.

Seit April testen Streetworker im Landkreis die App. Nach einer Evaluation und Optimierung soll geprüft werden, wie es die App in den Regelbetrieb schaffen kann.

Im Rems-Murr-Kreis arbeiten momentan
22 Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen an elf Standorten als Streetworker im Bereich der mobilen Jugendarbeit. Diese erreicht als Teil der Jugendhilfe sozial benachteiligte und marginalisierte junge Menschen zwischen 14 und 27 Jahren. Fachkräfte unterstützen sie bei der Bewältigung ihrer Entwicklungsaufgaben oder auch bei der Überwindung individueller Beeinträchtigungen. Das Kreisjugendreferat des Landratsamts berät die Fachkräfte dabei fachlich.