Timo Brunke: „Ich putze die Ohren des Klassikpublikums“

Das Interview: Timo Brunke gibt Einblicke in seine poetischen Betrachtungen über das menschliche Leben in Verbindung mit der Musik des Stuttgarter Kammerorchesters und anderer Ensembles. Mit dem Poetrykonzert im Backnanger Bürgerhaus wird die neue Spielzeit heute eröffnet.

 Timo Brunke: „Ich putze die Ohren des Klassikpublikums“

So wie Timo Brunke verknüpft kein anderer Musik und Poesie. Foto: J. Fiedler

Backnang. Die Spielzeit 2021/2022 im Backnanger Bürgerhaus wird heute um 20 Uhr mit einem Poetrykonzert des Stuttgarter Kammerorchesters sowie Solisten eröffnet. Ein besonderer Solist ist neben Nikolaus von Bülow (Violoncello) der Stuttgarter Slampoet Timo Brunke. Das Konzert war zunächst auf den 14. November 2020 terminiert, wurde aber wegen eines neuerlichen Lockdowns verschoben. Wir sprachen mit Timo Brunke, der heute Abend um 19 Uhr auch eine Einführung zu dem Konzert gibt, über seine Arbeit mit Orchestern und Erfahrungen in der Coronazeit.

Sie haben die Pause von Auftritten auf Bühnen in Innenräumen gut genutzt. Zum Beispiel mit „Optimismus“-Poetry im Radio. Wie ist es Ihnen in der bisherigen Coronazeit wirklich ergangen?

Ich weiß noch, wie ich mit Familie und Freunden Anfang November 2020 von einer Wanderung heimfuhr und im Radio der Lockdown für alle Bühnen im Land verkündet wurde. Da bin ich in ein Loch gestolpert, mitsamt meinen frisch geschriebenen und einstudierten Texten. Und ich habe mir tatsächlich vorgestellt, wie es wäre, wenn die Bühnen und die anderen öffentlichen Stätten für künstlerische Darbietungen nie mehr so bespielbar werden könnten, wie wir es alle gewohnt gewesen waren. Die Arbeit für SWR2 hat mich da auch motivatorisch dann durchgetragen. Mittlerweile habe ich mich an Zoomtreffen gewöhnt und eine gewisse „Sesshaftigkeit“ schätzen gelernt. Und jetzt freue ich mich über die Maßen auf die kommenden Liveauftritte.

Ihre Konzertpoetry begann ja 2016 in Hamburg in Zusammenhang mit dem Klassiknetzwerk Tonali, jetzt haben Sie dieses Jahr mit dem neuen Tonali-Orchester wieder ein faszinierendes Projekt realisiert und kooperierten dabei mit mehreren zeitgenössischen Komponisten. Können Sie uns einen Einblick geben, wie Sie hier gearbeitet haben, wie Musik und Poesie zusammengebracht wurden?

Es handelte sich hier um ein nachgeholtes Jubiläumskonzert zu Beethovens 250. Geburtstag – und der Clou daran war: Keine einzige Note aus dem Werk des Jubilars sollte hierbei erklingen. Dafür wurden vier Komponisten, eine Komponistin beauftragt, je ein gänzlich frei wählbares „Ständchen“ zu schaffen. Zwischen diesen fünf neuen Kompositionen grätschte ich nun mit fünf Gedichten zu Beethoven hinein. Alle zehn Titel des Abends fielen sehr unterschiedlich aus. Die Wirkung steigerte sich – anders als beim Konzert in Backnang –, indem die Stücke als Ganzes „nacheinander aufeinander“ losgelassen wurden. Es war ein Festprogramm der ganz besonderen Art.

In Backnang stehen heute „Battalia à 10“ von Heinrich Ignaz Biber, die Ouvertüre aus „Bourlesque de Quixotte“ von Philipp Telemann und „The Nocturnal Dances of Don Juan Quixote“ für Violoncello und Streicher von Aulis Sallinen auf dem Programm. Wie packt ein Slampoet diese Werke an? Was erzählt die Musik und welchen Sound hat die Sprache?

Die Musik von Johann Heinrich Ignaz Biber ist von ergreifender Direktheit und zugleich Poesie. Biber zählt für mich zu den ganz großen Namen des musikalischen Barocks. In der „Battalia“ malt er Szenen aus dem Soldatenleben vors innere Auge, mit Gefechtslärm, aber auch Liebesschwüre und das Glück zu Pferde klingen auf. Bei Telemann sehen wir den Ritter von der traurigen Gestalt über die spanische Hochebene reiten. Aber diese Originalbilder tausche ich durch neue Szenerien aus. Ich setze mich sozusagen immer wieder direkt auf diese Musik mit meinen Texten – und katapultiere sie damit in unsere Gegenwart. Das ist bei „Hombre“ die Grundidee: Obwohl die Musik ein paar Jahrhunderte alt ist, bringt sie unsere Gegenwart zum Ausdruck.

„Hombre“ ist der Titel des Programms in Backnang. Wer ist in diesem Zusammenhang „Hombre“?

„Hombre!“ heißt ja auf Deutsch in etwa „Menschenskind!“ Um dieses Wesen geht es hier, also um uns Menschen auf dieser Erde im 21. Jahrhundert. Ich wage eine poetische Betrachtung über das menschliche Leben. „Hombre“ ist quasi „jedermann“, aber auch „jedefrau“. Unsere Aufbrüche, unsere Träume, unsere Grenzen, unser Miteinander – all das kommt locker gefügt in kleinen Schnittchen und Situatiönchen und mit Humor zur Sprache.

Bei der Konzertpoetry, so heißt es in einer Beschreibung, folgt die Sprache einmal der Musik, ein anderes Mal geht sie dagegen an. Können Sie das näher erklären?

Ich will es versuchen: Klassische Musik gilt einerseits als eine immer gültige Weltsprache. Zum anderen aber hat jedes Werk aus diesem Repertoire seinen konkreten, historisch bedingten Stil. Und weil ich diese Musik so sehr mag, engagiere ich mich für sie. Das kann ich tun, indem ich ihr mit Poesie ein schönes Entree verschaffe – oder indem ich sie „durch den Fleischwolf“ meiner Fantasie drehe, sprich: Ich erfinde in intensiver Auseinandersetzung mit den Noten eine neue Thematik und putze auf diese Weise die routinierten Ohren des Klassikpublikums.

Die Konzertpoetry ist ja immer noch eine Nischenkunstform. Wie hat sie sich seit den Anfängen entwickelt?

Die Konzertpoesie ist in der Tat noch sehr jung. Außer mir selbst kenne ich noch keinen Künstler, der sich als Konzertpoet bezeichnet. Vielleicht finde ich noch eine Agentur, die meinen Ansatz unterstützen möchte. Aber vielleicht geht es auch wie bisher, durch kontinuierliches Netzwerken, immer ein Stückchen damit weiter. Eigentlich müsste sie sich nach und nach weiter verbreiten können. Denn sie verhilft der Kunstmusik zu einer ganz bestimmten Frische in der Wahrnehmung. Ich bin jedenfalls froh und dankbar über das, was ich seit 2016 erreicht habe.

Im Zusammenhang mit Ihrer Arbeit mit dem Tonali-Orchester wurde einmal geschrieben, dass Sie zwischen Ludwig van Beethoven, um den es bei dem Projekt auch ging, und Ihrer Kunst viele Parallelen sehen. Beethoven sei ebenso wie ein Slampoet ein kompetitiver Musiker, Komponist und Künstler gewesen. Trifft dies nicht auf alle Komponisten zu?

Diesen Satz hatte ich formuliert, um Beethovens Kompositionsweise zu charakterisieren. Wenn Sie seine Symphonien oder Sonaten nehmen: wie dort gerade die beiden Themen in den Kopfsätzen miteinander ringen. Natürlich können Sie auch sagen: Kunst lebt immer auch von Kontrasten. Da möchte ich nicht widersprechen. Aber nehmen Sie einen spannenden Poetry-Slam-Abend: Ein Text ist zum Lachen – und drei Minuten später startet die darauffolgende Slampoetin eine Attacke auf Ihr politisches Gewissen. Diese Wechselbäder meinte ich.

Das Gespräch führte Ingrid Knack.