2. Stuttgarter Literaturfestival startet

Angst, Wut und Lebenshunger

Lesungen, Ausstellung, ein georgischer Abend, Party: Unter dem Motto „(Über)Leben“ findet Mitte Mai das 2. Stuttgarter Literaturfestival statt.

Angst, Wut und Lebenshunger

Nino Haratischwili

Von Rolf Spinnler

Unter dem Titel „Schreiben, während die Welt geschieht“ fand im Mai 2023 das 1. Stuttgarter Literaturfestival statt, damals kuratiert von der Schriftstellerin Lena Gorelik. Im Zweijahresrhythmus soll dieses Festival künftig über die Bühne gehen, die zweite Ausgabe ist jetzt für die Zeit vom 14. bis zum 24. Mai festgesetzt. Das Programm dazu, das dieses Jahr die vom Stuttgarter Literaturhaus benannte Kuratorin Nino Haratischwili zusammengestellt hat, wurde kürzlich im Boschareal vorgestellt. Neu ist diesmal, dass das von der Stadtbibliothek betreute Kinder- und Jugendprogramm von einer eigenen Kuratorin, der afrodeutschen Autorin Chantal-Fleur Sandjon, ausgewählt wurde.

„(Über)Leben“ lautet in diesem Jahr die Überschrift über den zahlreichen Veranstaltungen des Festivals, das nicht nur aus Autorenlesungen besteht, sondern unter anderem auch zu einer Ausstellung im Literaturhaus, einem musikalischen-kulinarischen Abend mit georgischen Gerichten und georgischer Musik und am letzten Festivalwochenende zu einer Party mit DJs aus Georgiens Hauptstadt Tbilissi einlädt. Die Spielorte sind dabei über die ganze Stadt verteilt.

Nino Haratischwili wurde 1983 in Tbilissi geboren, lebt inzwischen in Berlin und hat sich als Theaterregisseurin, Dramatikerin und Romanautorin einen Namen gemacht. Dass Literatur aus Osteuropa einen Schwerpunkt des Festivals bildet, ist deshalb keine Überraschung. Sie habe noch nie ein solches Programm kuratiert, gestand Haratischwili bei der Präsentation im Literaturhaus, und sie sei sich zunächst vorgekommen wie ein Kind im Spielzeugladen. Dann habe sie sich gefragt: Welche Autoren mag ich? Und was für interessante Neuerscheinungen gibt? Die Auswahl sollte nicht zu eurozentrisch, sondern möglichst international sein. Also finden sich unter den eingeladenen Gästen Autorinnen und Autoren unter anderem aus Polen, der Ukraine, Finnland, Syrien, Frankreich, dem Iran, Italien und Argentinien.

Das Festivalmotto „(Über)Leben“ versteht Haratischwili als Beschreibung der aktuellen Weltsituation. Literatur sehe sich heute konfrontiert mit einer „verwirrten, verunsicherten Welt“, mit einer „Zeit der Paradigmenwechsel“.

Die Eröffnung bestreitet denn auch der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch, der sein neues Buch „Die Nulllinie – Roman aus dem Krieg“ mitbringen wird, das seine Reisen in die Ukraine während der letzten beiden Jahre verarbeitet.

Literatur sei ein „Pulsmesser“, müsse die Angst und die Wut über die aktuelle Situation zur Sprache bringen, meinte Haratischwili, aber sie dürfe sich dadurch nicht entmutigen lassen, keine Lähmung erzeugen und nicht in Nihilismus verfallen. Sie solle auch den „Lebenshunger“ zum Ausdruck bringen, das Leben feiern: „Panzer und Bomben können vielleicht Welten zerstören, aber die Literatur kann sie erschaffen. Und neben all dem Schrecken, für den sie Worte findet, ist sie ebenfalls in der Lage, von unermesslicher Schönheit, von Liebe, von Güte, von Freundschaft, von Hoffnung, vom Lachen zu erzählen“.

Chantal-Fleur Sandjon, 2023 für „Die Sonne, so strahlend und Schwarz“ mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet, will als Kuratorin des Kinder- und Jugendprogramms in ihrer Auswahl ebenfalls die Vielfalt des Lebens darstellen und die jungen Menschen dabei gleichzeitig nicht überfordern. Vielfalt und zugleich die Suche nach Gemeinsamkeiten, Literatur als Brückenbauer, Bücher als Waffen des Widerstands – auf diese Auswahlkriterien konnten sich offenbar beide Kuratorinnen verständigen.

„Literatur und Kunst im Allgemeinen kann leider nicht präventiv wirken, aber sie kann Sinn stiften, sie kann Zusammenhalt und allem voran: Empathie schaffen“, findet Nino Haratischwili. Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube, könnte man jetzt hier einwenden; das hört sich alles sehr deutsch an: Literatur als moralische Anstalt. Und spontan fallen einem schnell einige Gegenbeispiele ein: von Marinetti über D’Annunzio, Ernst Jünger und Céline bis zu Mishima. Aber die Festivalbesucher sollten sich durch solche Einwände nicht abschrecken lassen.

(Über)Leben. Das Literatur-Festival findet vom 14. bis zum 24. Mai an verschiedenen Orten der Stadt statt. Infos und Programm unter www.stuttgarter-literaturhaus.de