Nachhaltig wohnen in Hannover

Avantgardistisches Einfamilienhaus mit einem Hauch Shabby Chic

Fußböden aus Ziegelschutt und Fliesenspiegel aus Kronkorken: ein Wohnhaus in Hannover besteht aus zusammengesuchten, wiederverwerteten Materialien. Und ist doch große Architektur. Ein Besuch im ersten Recyclinghaus Deutschlands.

Avantgardistisches Einfamilienhaus mit einem Hauch Shabby Chic

Kaum zu glauben: Das Recyclinghaus in Hannover besteht hauptsächlich aus Schutt und Schrott.

Von Tomo Pavlovic

Wie so oft ist vieles immer nur eine Frage der Perspektive. Da wäre zum Beispiel dieses Haus im Südosten von Hannover. Das Gebäude mit der dezenten, in Grün und Anthrazit schimmernden Fassade und dem halben Flachdach in dem Stadtteil Kronsberg ist schon aus der Ferne gut erkennbar. Es hebt sich deutlich von seiner Umgebung in der Neubausiedlung ab, die nach der Expo 2000 – der Weltausstellung – angelegt wurde.

Schöner wohnen – im Abfall

Das Haus wirkt auffällig unauffällig, und wer es nicht besser weiß, wird vermutlich auf ein ziemlich gelungenes Architektenhaus tippen, das bestimmt kein Schnäppchen war; schon weil das hier ein familienfreundliches Vorzeigeviertel im XXL-Format ist und die Bauherrschaften sich von den Gebäuden ringsherum sichtbar unterscheiden wollten.

Wer es allerdings besser weiß, fragt sich: Mein Gott, und das soll nun Müll sein? Wie so oft im Leben, ist es mit der Wahrheit so eine Sache. Jedenfalls sind beide Sichtweisen zutreffend. Man kann auch im Abfall schöner wohnen. Und wesentlich vernünftiger als man denkt.

Doch bevor man vernünftig wohnt, muss man umweltverträglich bauen. Sagt auch Achim Bothmann, der das Recyclinghaus von Hannover-Kronsberg mietet. Mit seiner Familie. „Wir haben das Haus ganz klassisch auf einem Immobilienportal entdeckt. Oder sollten wir sagen, das Haus entdeckte uns?! Auf jeden Fall stand damals noch der Bauzaun, aber wir waren sofort begeistert.“ Und das liegt vor allem daran, dass Achim Bothmann und Dorothee Weinlich ökologisch denkende Menschen sind.

Der Vermieter – der Baukonzern Gundlach – hat genau überlegt, wer in diesem Haus leben soll. „Ein zweites Gespräch in der Firmenzentrale unseres Vermieters empfanden wir fast als Casting. Denn die Bewohner und das Haus müssen ja irgendwie zueinander passen. Das war und ist aber kein Problem für uns. Wir sind sowieso nachhaltig unterwegs. Wir fasten beispielsweise Plastik oder haben eine Garkiste.“

Die beiden sind keine Architekten. Er arbeitet als Bauingenieur, sie lehrt als Professorin für Kommunikationsdesign an der Hochschule in Hannover. Doch das Paar identifiziert sich voll und ganz mit der Idee des zirkulären Wirtschaftens und kann deswegen alles wunderbar erklären, fast so als hätten die beiden es eigenhändig geplant und gebaut.

Über das Haus, das die Architekten Cityförster entworfen haben, lässt sich sagen, dass es wirklich ein Unikat ist: die Baufirma Gundlach hat es als Experiment konzipiert und umgesetzt. Fertigstellung war 2019, die Wohnfläche beträgt 150 Quadratmeter. Es finden regelmäßig Exkursionen mit Haustouren statt, welche die Firma Gundlach organisiert. Sie will ein Fachpublikum für das Thema Recycling sensibilisieren.

Meist sind es Architektinnen und Architekten, die den Bau besichtigen, Achim Bothmann und Dorothee Weinlich haben sich mit ihrer Unterschrift im Mietvertrag dazu bereit erklärt, in bestimmten zeitlichen Abständen die Türen für Besuchergruppen zu öffnen. Das macht ihnen aber nichts aus, im Gegenteil. „Wir leben seit dreieinhalb Jahren hier. Und sind sehr glücklich“, sagt Achim Bothmann, während er in der Küche einen Kaffee zu bereitet. Der stammt selbstverständlich aus fairem Handel.

In den Innenräumen gilt dasselbe wie außen: Das meiste ist Müllverwertung. Der Boden ist ein aparter Guss-Terrazzo aus Ziegelsplitt, die mattweißen Wände und Türen stammen aus dem Messebau einen Steinwurf von Kronsberg entfernt, wo sie entsorgt wurden, was übrigens auch für alle Einbauschränke gilt, die vor allem im ersten Stock wunderbar eingepasst wurden.

Auch so ein Hingucker aus Abfall: Der Fliesenspiegel im Bad. Der ist aus Kronkorken hergestellt, die Flaschendeckel kommen von dem Hamburger Getränke-Unternehmen Fritz-Kola. Sieht wirklich cool aus, man musste lediglich darauf achten, dass die Kronkorken möglichst wenig verbeult sind.

Fischernetze als Bodenbelag

Nichts wurde dem Zufall oder besser: dem Baumarkt überlassen. Das gilt auch für den Bodenbelag im ersten Stockwerk. „Geisternetze sind verlorene oder im Meer entsorgte Fischernetze, die noch jahrzehntelang dort herumtreiben. Sie werden vielen Meeresbewohnern zur tödlichen Falle!“, erklärt Achim Bothmann, während er mit der Hand den dunkelgrauen Boden streichelt. „Eine Organisation spürt diese Netze auf und bringt sie an Land. Eine Firma produziert aus diesem synthetischen Material dann zum Beispiel Teppiche, die nun bei uns im Obergeschoss liegen.“

Beim Dämmstoff für die Außenwände wurde auf ausgemusterte Jutesäcke der Schokoladenfirma Ritter zurückgegriffen. Bisher wurden solche Säcke nach einmaliger Nutzung entsorgt. Nicht alles kam aus der Region, doch immerhin: Mehr als die Hälfte der verwendeten Werkstoffe haben die ökologisch engagierten MitarbeiterInnen von nahe liegenden Deponien „gerettet“ oder „geerntet“. Beide Begriffe verwendet Achim Bothmann häufig und gern, wenn es um die Beschaffung von Baumaterial geht.

Statt die Baustoffe wegzuwerfen, hat Gundlach sie aufbereitet und neu eingebaut. Dazu gehören auch drei Türen aus einem jahrhundertealten niedersächsischen Bauernhaus, das nicht mehr erhalten werden konnte. Heizung und Warmwasser werden hingegen durch eine moderne Luft-Wasserwärmepumpe in Kombination mit Solarthermie-Paneelen bereitgestellt. Der energetische Standard ist vergleichbar mit einem KfW-Effizienzhaus 55.

Recyclingbeton im Fundament

Interessant ist die Außenwirkung der gläsernen, je nach Lichtverhältnissen grünlich oder blau schimmernden Fassade: Diese alten Profilbaugläser stammen aus einer abgerissenen Lackiererei ganz in der Nähe. Gerade die Herstellung von Glas ist sehr energieintensiv; umso besser, wenn entsorgtes Glas wiederverwendet werden kann. Im Rohbau des Hauses sind rund 100 Tonnen CO2 gebunden, die erst nach dem Ende der Lebensdauer wieder an die Atmosphäre abgegeben werden. Und auch beim Beton fand man eine recyclinggerechte Lösung: Für das Fundament kam Recyclingbeton mit einem Anteil von 42 Prozent Altmaterial zum Einsatz – zum ersten Mal in Niedersachsen.

Doch was so schön klingt, ist die absolute Ausnahme in Deutschland: Es gibt nämlich noch keine funktionierende Bauteilbörse für recyclingfähige Stoffe, bei der man notwendige Teile einfach bestellen könnte. Wer entsorgte Teile wiederverwenden will, muss suchen, gute und geduldige Handwerker kennen und bekommen sowie Bauteile verbauen, die – und das ist vielleicht die größte Herausforderung in diesem regelwütigen Land – möglicherweise keiner DIN-Norm entsprechen. Das kann zu weiteren Schwierigkeiten beim Genehmigungsverfahren führen. Alles beruht letztlich auf Improvisation.

Trotzdem: Das Pionierprojekt hat sich gelohnt. Dieses avantgardistische Einfamilienhaus mit dem individuellen Shabby Chic hat zahlreiche Preise und Anerkennungen eingeheimst, denn die Bauherren demonstrieren beispielhaft, wie es gehen könnte: Neu bauen ohne schlechtes Gewissen. „Das Haus macht schon was mit einem“, sagt Achim Bothmann beim Abschied. Wie recht er hat.

Avantgardistisches Einfamilienhaus mit einem Hauch Shabby Chic

Deutschlands erstes Recyclinghaus wurde vom Architekturbüro Cityförster architecture + urbanism entworfen, die Wohnbaugesellschaft Gundlach zeichnete für die Konzeption und die Umsetzung verantwortlich.

Avantgardistisches Einfamilienhaus mit einem Hauch Shabby Chic

Fertigstellung war im Jahr 2019. Auf den ersten Blick vermutet man keinesfalls ein Haus, das größtenteils aus Schutt und Schrott auf einem Restgrundstück erbaut ist.

Avantgardistisches Einfamilienhaus mit einem Hauch Shabby Chic

Bei der ansprechenden Fassadengestaltung kamen gebrauchte Profilbaugläser, längst entsorgte Eternitplatten und altes Wellblech zum Einsatz.

Avantgardistisches Einfamilienhaus mit einem Hauch Shabby Chic

Nachhaltiges Bauen mit altem Material kann nur dann Schule machen, wenn das Ergebnis ästhetisch ansprechend ist. Selbst die Fensterelemente sind gebraucht und mussten individuell angepasst werden.

Avantgardistisches Einfamilienhaus mit einem Hauch Shabby Chic

Das Holz für die Fassade des Nutzraumes stammt aus einer alten, demontierten Sauna.

Avantgardistisches Einfamilienhaus mit einem Hauch Shabby Chic

Schön hell sind die Räume danke der großzügig bemessenen Fenster.

Avantgardistisches Einfamilienhaus mit einem Hauch Shabby Chic

Baden-Württemberg meets Niedersachsen: Eine Gin-Flasche des bekannten Schwarzwälder Gin-Herstellers Monkey 47 dient als Glasleuchte im Eingangsbereich.

Avantgardistisches Einfamilienhaus mit einem Hauch Shabby Chic

Die beiden Türen, die im schmalen Eingangsbereich eingebaut wurden, strahlen mit ihrem Gitterwerk historischen Charme aus; sie stammen auch aus einem Bauernhaus der Umgebung Hannovers, das leider nicht als Baudenkmal gerettet werden konnte.

Avantgardistisches Einfamilienhaus mit einem Hauch Shabby Chic

Prägnant für den Gesamteindruck sind hier auch die Zwischenwände aus rötlichen Abbruchziegeln, die aus einer abgerissenen Scheune stammen.

Avantgardistisches Einfamilienhaus mit einem Hauch Shabby Chic

Der offene Wohn-, Küchen- und Essbereich im Erdgeschoss erhielt als Bodenbelag – über einer Dämmschüttung aus gebundenem Schaumglasgranulat – einen Guss-Terrazzo, der mit Ziegelsplitt und eingestreuten rötlichen Ziegelsteinfragmenten ein ansprechendes Mosaik erzeugt.

Avantgardistisches Einfamilienhaus mit einem Hauch Shabby Chic

Der Fliesenspiegel aus Kronkorken. Und das alte Waschbecken stammt aus den 70er Jahren, das war dieser Grünton in vielen deutschen Badezimmern daheim.

Avantgardistisches Einfamilienhaus mit einem Hauch Shabby Chic

Im ersten Stockwerk stammen die Wände und Schrankeinbauten aus dem Messebau. Es gibt reichlich Stauraum und Ablageflächen. Der Boden ist ebenfalls aus Recyclingfasern.

Avantgardistisches Einfamilienhaus mit einem Hauch Shabby Chic

Die Rohre der Handläufe sowie die kräftigen schwarzen Stahlstäbe der Absturzsicherung sind ausgebaute Stahlteile aus dem Haus der Jugend und einem weiteren Freizeitheim.

Avantgardistisches Einfamilienhaus mit einem Hauch Shabby Chic

Auch sonst finden sich viele interessante Details – in jedem Zimmer, auf jedem Stockwerk. Ein Gang durch das Recyclinghaus ist eine spannende Exkursion durch einen Materialkosmos. Müll kann wirklich schön sein.