Das Fernsehen spielt Polizei

Die Michael-Jackson-Doku auf Pro 7 ist Teil eines Booms

Von Kathrin Horster

True Crime - Die nun auch in Deutschland zu sehende TV-Doku „Leaving Neverland“ mit neuen Missbrauchsvorwürfen gegen Michael Jackson ist kein Einzelfall. Warum ist True Crime so erfolgreich?

Stuttgart Die Leute nannten ihn „ Vampir“, „Schlächter“, sogar „Werwolf von Hannover“: Fritz Haarmann, einen der berüchtigtsten Serienmörder Deutschlands, der vor rund 100 Jahren Furcht und Abscheu unter seinen Zeitgenossen verbreitete. 1925 fiel sein Kopf auf dem Schafott, juristisch galt der Fall damit als abgeschlossen. Trotzdem geistert die Figur bis heute durch die Populärkultur – wie unzählige andere Mörder auch.

Dass von Kriminalität Faszination ausgeht, ist kein neues Phänomen. Aber seit einigen Jahren boomt das 1966 von Truman Capotes Tatsachenroman „Kaltblütig“ in die Moderne geholte Genre des True Crime, mit gruseligen Protagonisten wie Ted Bundy, Jeffrey Dahmer, Charles Manson oder O. J. Simpson. Aktuell beschäftigen Missbrauchsvorwürfe gegen den R&B-Sänger R. Kelly sowie gegen den 2009 verstorbenen Michael Jackson die Öffentlichkeit. An diesem Samstag strahlt Pro 7 die Dokumentation „Leaving Neverland“ aus, die neue Vorwürfe gegen Jackson erhebt.

Doch warum setzen sich Zuschauer freiwillig detaillierten Schilderungen echter Verbrechen aus? Welche Funktionen erfüllt das Genre? Und ist es überhaupt legitim, echte Kriminalfälle in Form unterhaltender Bücher, Artikel, Podcasts, TV-Serien und Filme zu verarbeiten? Geht es um pure Angstlust und Neugier?

Grausame Erzählungen vermitteln extreme Erfahrungen aus sicherer Distanz. Wer sich dem Schrecken beim Konsum von True Crime stellt, verarbeitet ihn dabei. Und in der Abgrenzung zu extremen Täterbiografien erlebt sich der Durchschnittsbürger auf der moralisch sicheren Seite. Er erkennt aber die Schmalheit des Grats zwischen Norm und pathologischer Abweichung.

Ein Umstand, der lange vor dem modernen True-Crime-Hype große Dichter beschäftigte. Für sein Drama „Woyzeck“ um einen Mann, der im Wahn seine Geliebte ersticht, stützte sich Georg Büchner 1836 auf ein vom Leipziger Mediziner Johann Christian Clarus erstelltes Fallgutachten. Clarus bescheinigte dem Täter volle Zurechnungsfähigkeit, Büchner versuchte, Verständnis für die Hintergründe der Tat zu erwecken.

Ausgewogen sind die Darstellungen aber selten. Dokuserien wie „Ted Bundy: Selbstporträt eines Serienmörders“ oder „Das Verschwinden von Madeleine McCann“ (beide Netflix) montieren nur Ausschnitte eines Geschehens. Die subjektive Einschätzung der Macher ist ausschlaggebend.

Eindrucksvoll tritt dieses Phänomen in Marcus Vetters und Karin Steinbergers Dokumentation „Das Versprechen“ zutage. Darin wird der Tod eines Ehepaars im US-Bundesstaat Virginia aufgerollt, das 1985 von seiner Tochter und deren Freund Jens Söring ermordet worden sein soll. Söring sitzt als verurteilter Mörder in einem US-Gefängnis, beteuert aber seine Unschuld. Das Problematische liegt nicht im Versuch, den komplexen Fall erneut zu würdigen, sondern in der positiven Voreingenommenheit der Macher. Hier kann sich das Publikum nicht mehr selbst ein Bild von der Sachlage machen, es wird eines vorgegeben.

Das Verführerische von True-Crime-Formaten liegt im Versprechen, wirklich jeder könne mithilfe seines gesunden Menschenverstandes ein besseres Urteil fällen als die Justiz. Wie machtvoll subjektive Erinnerungen, Rekonstruktionen und gezielte mediale Inszenierungen dabei die Wahrnehmung beeinflussen, verdeutlicht die Filmemacherin Kitty Green in „Casting JonBenet“ (Netflix) über den seit 20 Jahren ungeklärten Mord an einer sechsjährigen Schönheitskönigin. Greens Strategie: Statt Fakten und den bisherigen Ermittlungsstand zu präsentieren, stellt sie mit Laien im Rahmen eines Spielfilm-Castings verschiedene Theorien über den Hergang des Mordes nach.

Was uns wie ein exklusiver Einblick in eine womöglich von Behörden oder anderen zurückgehaltene Wahrheit vorkommt, ist nichts weiter als eine denkbare Version. Jemanden aufgrund solch fiktiver Beweisketten verurteilen oder freisprechen zu wollen, wäre fatal. So ist True Crime mit Skepsis zu genießen, als grausiges Gedankenspiel, nicht als letzte Instanz der Aufklärung.