Das Lehrerseminar und seine Historie

Blick in das Archiv von Peter Wolf: Von Hochschulstandort über Nationalpolitische Erziehungsanstalt bis zu modernem Schulbetrieb hat das markante Gebäude in der Murr-Metropole eine wechselvolle Geschichte hinter sich.

Das Lehrerseminar und seine Historie

Kolorierte Postkarte mit dem Lehrerseminar um 1920. Es fand wohl eine Feierlichkeit statt. Repros: P. Wolf

Von Claudia Ackermann

BACKNANG. Das markante Jugendstilgebäude mit den drei Dachreitern auf der Anhöhe in Richtung Aspach wird von vielen Backnangern bis heute als „Seminar“ bezeichnet. In exponierter Lage, von vielen Stellen in Backnang aus weithin sichtbar, wurde es von 1906 bis 1909 nach Plänen des Oberbaurats Albert von Beger erbaut. Darin wurde ein Lehrerseminar eingerichtet. Damit wurde Backnang zum Hochschulstandort.

Ende des 19. Jahrhunderts herrschte in Württemberg Lehrermangel. „Die Lehrerseminare wurden für die Ausbildung der Lehrer der Volksschulen eingerichtet und galten als Keimzelle der Verbesserung dieser Schulart“, heißt es im Backnang-Lexikon. Die Standortwahl fiel nicht zuletzt auf Backnang, weil es hier in der Gerberstraße 27/29 bereits seit 1903 eine private Präparanden-Anstalt zur Vorbereitung auf das Lehrerseminar gab.

Am 24. Mai 1909 konnte das neue Lehrerseminar eingeweiht werden. Es umfasste neben dem Hauptgebäude eine Turnhalle sowie ein Küchengebäude mit Speisesaal und war als Internat eingerichtet. Der Betrieb begann mit drei Kursen von fast 90 Schülern, die von einem neunköpfigen Lehrerkollegium unterrichtet wurden, informiert das Backnang-Lexikon weiter. Nach dem Ersten Weltkrieg schwankte die Zahl der Seminaristen erheblich, sodass zeitweise sogar die Schließung drohte. Ein Foto aus Peter Wolfs Archiv zeigt eine Abschlussklasse, die von 1915 bis 1921 im Lehrerseminar ausgebildet wurde. Wie man sieht, sind es nur männliche Absolventen.

Auf einer kolorierten Postkarte mit einer Aufnahme, die um 1920 entstanden ist, findet wohl eine Festlichkeit statt. Männer, Frauen und Kinder sind mit Sonntagskleidung herausgeputzt. Flaggen mit den Backnang-Farben Blau und Gelb sind gehisst. Bis 1935 war Backnang einer der insgesamt sechs Standorte für Lehrerseminare in Württemberg. In den 26 Jahren des Seminarbetriebs wurden rund 1100 Lehrer ausgebildet. „Die bestehende Einrichtung übte große Ausstrahlung auf die Stadt und ihr kulturelles Leben aus“, heißt es im Backnang-Lexikon. 1935 wurde auch in Württemberg die Hochschulbildung für Volksschullehrer ausgeweitet und die Lehrerseminare wurden aufgelöst. Bereits 1934 war in nicht ausgelasteten Räumen des Seminars die neben Rottweil zweite Nationalpolitische Erziehungsanstalt (NPEA) in Württemberg eingerichtet worden. Diese hatte zur Aufgabe, „in erster Linie Führer im neuen Reich heranzubilden“, informiert das Backnang-Lexikon weiter. Die NPEA, im Volksmund Napo oder Napola genannt, sollte etwas völlig Neues darstellen und keine Schule im traditionellen Sinn sein. Es gab keinen Rektor, sondern einen Anstaltsleiter. Die Schüler wurden als „Jungmannen“ bezeichnet.

Für die Absolventen gab es keine vorgezeichnete Laufbahn. Höhere Stellen in Verwaltung, Militär und Industrie sollten sie sich im Sinne ständiger Bewährung nach dem Ausleseprinzip erarbeiten. Die Lehrkräfte vermittelten nicht Spezialkenntnisse, sondern allseitige Kompetenz – in Fremdsprachen ebenso wie in Technik, Kunst und Sport. In Peter Wolfs Archiv befindet sich ein Foto von den jungen Männern in Uniformen beim Schreiben einer Prüfung. Der Keller des Gebäudes diente im Zweiten Weltkrieg auch als Schutz vor Luftangriffen. Eine Aufnahme im Archiv zeigt eine Gruppe von Männern, Frauen und Kindern vor dem Gebäude. „Lehrgang und Luftschutz 23.–28.9.35“ steht auf der Rückseite. Bei Kriegsende diente das Gebäude den amerikanischen Truppen als Hilfslazarett. Anschließend nutzte man es als Unterkunft für Personen, die sich aufgrund des Kriegs außerhalb ihrer angestammten Heimat befanden (displaced persons). Ab 1950 wurden Flüchtlinge aus dem Osten im Seminar untergebracht, darunter 1953 für fünf Monate der spätere Bundespräsident Horst Köhler mit seinen Eltern und Geschwistern. Hier wurde er auch in der Volksschule unterrichtet. Am 6. Juni 2006 besuchte er Backnang während seiner Amtszeit als Staatsoberhaupt. Er erinnerte sich an seine Zeit als zehnjähriges Flüchtlingskind in Backnang und an seinen Lehrer und Mentor Franz Balle, ohne dessen persönlichen Einsatz bei der Schulbehörde in Ludwigsburg Horst Köhler in der Nachkriegszeit kaum die Möglichkeit gehabt hätte, ein Gymnasium zu besuchen, berichtete die Backnanger Kreiszeitung.

Ins Goldene Buch der Stadt schrieb er damals: „Backnang wird immer einen festen Platz in meinem Herzen haben. Hier erlebte ich einen entscheidenden Anstoß für mein Leben durch den Lehrer Balle und die Begegnung mit schwäbischer Tatkraft und Energie. Dank dafür.“ Schon Anfang der 1950er-Jahre konnte ein Teil des Gebäudes für Volksschulzwecke verwendet werden. 1959 beschloss der Gemeinderat, das Seminar vom Land zu kaufen und es für 20 Klassen der Volksschule auszubauen. Nach Abschluss der Umbauarbeiten konnte 1961 die Mörikeschule und nach einer Erweiterung 1992 dann zusätzlich die Schickhardt-Realschule in das Gebäude in der Richard-Wagner-Straße einziehen.

Das Lehrerseminar und seine Historie

Abschlussklasse, die im Lehrerseminar von 1915 bis 1921 ausgebildet wurde.