Filmwinter-Macherin Giovanna Thiery:

„Der Spaß hat uns im Würgegriff“

Am 12. Januar startet das Experimentalfilmfest Stuttgarter Filmwinter. Was hat es mit dem Motto „Unendlicher Spaß“ auf sich? Filmwinter-Macherin Giovanna Thiery gibt Antworten.

„Der Spaß hat uns im Würgegriff“

Filmwinter-Vordenkerin: Giovanna Thiery

Von Nikolai B. Forstbauer

Am 12. Januar beginnt in Stuttgart das Experimentalfilmfest Filmwinter. Zum 36. Mal fragt das Festival mit internationalen Wettbewerbsreihen und der Medienkunstausstellung Expanded Media nach neuen Möglichkeiten der künstlerischen Äußerung mit filmischen Mitteln. Was aber hat es mit dem Festival-Motto „Unendlicher Spaß“ auf sich? Und hat das filmische Experiment in der digitalen Flut überhaupt noch einen Ort? Antworten gibt Filmwinter-Co-Direktorin Giovanna Thiery.

Frau Thiery, „Unendlicher Spaß“ ist das diesjährige Filmwinter-Motto. Ist das nicht sehr auf die happy few zugeschnitten? Mehr als die Hälfte der Bevölkerung dürfte sich in diesen Monaten mehr mit Kostenfragen als mit Amüsiereinheiten beschäftigen?

Mit unserem Motto bezeichnen wir, dass inmitten der Blase der größten Spaßinszenierung einer schönen neuen Welt sind, in der jedes noch so Ereignis medienwirksam in Szene gesetzt wird und in der alles zur Unterhaltung wird. Es wird immer unklarer, wie und wofür wir Stellung beziehen können, der Spaß hat uns im Würgegriff. Wir schaffen uns neue Heilige und Helden und kompensieren damit eigentlich nur das Gefühl unserer Ohnmacht.

Ist also das Motto eher als Hinweis zu verstehen, dass sich Arbeiten mit filmischen Mitteln aktuell deutlich im Bereich der Ironie bewegen?

Film und Medienkunst brechen die Sehgewohnheit. Sie nehmen Formen und Strukturen des medialisierten Alltages auf, um neue mögliche Modellen unserer Gesellschaft zu entwerfen. Film und Medienkunst möchten Denkmuster überholen, um Zwischenräume zu besetzen. Das Spannungsverhältnis zwischen Fiktion und Realität wird unter die Lupe genommen. Ironisch zu handeln, heißt Mut zu neuen Harmonien zu haben und konstant auf die anderen Seiten der Medaille, die nie nur zwei hat, hinzuweisen.

Was beschäftigt die Szene aus Ihrer Sicht aktuell noch?

Es gibt eine Tendenz von vielen Künstler*innen, sich mit der Überwindung der Trennlinie zwischen Menschen und Maschine, Profanem und Geisterhaften sowie Natürlichkeit und Künstlichkeit zu beschäftigen. Der anthropozentrische Blick kommt dabei ins Schwanken. Es ist in unserem aktuellen gesellschaftlichen Zustand absolut wichtig, diese Schwankung zu ermöglichen und Denkmuster zu überwinden. Bei unserem Festival geben wir diesem Diskurs breiten Raum: „Field Notes of the Planetary“ etwa, kuratiert von Florian Fischer und Mathieu Kleyebe Abonnenc und in der Ifa-Galerie zu erleben, widmet sich mit Filmscreening, Installationen und Talks diesen Themen.

Als Festival sammelt der Filmwinter ein, spiegelt, ist immer ein Stück hinterher und immer ein Stück voraus. Wohin geht die Reise für das Arbeiten mit filmischen Mitteln. Findet das, was man früher Avantgarde nannte, bald nur noch im Netz statt?

Die Schnittstelle zwischen Analog und Digital, virtuelle und reale Welt wird heutzutage kaleidoskopisch immer neu gesetzt. Das Netz ist ein Labor für die Auslotungen dieser Dichotomien. Allerdings ist die Verbindung zu der realen Welt unabdingbar. Avantgarde ist, wo eine Offenheit für neue Formen künstlerischer Prozesse vorhanden ist. Gleichzeitig geht es um Zugänglichkeit: die Avantgarde-Paradigmen mit dem assoziativen Verfahren, der Lust nach Struktur und Materie, der Erweiterung von Zeit und Raum Kategorien, dem Spiel zwischen Fiktion und Realität und der politische und gesellschaftliche Diskurs setzt sich eng in Verbindung mit dem, was im Netz in unterschiedlichen Formen stattfindet.

Spiel als Mittel der Analyse

Haben Sie ein Beispiel?

Ich denke etwa konkret an das formidable Game „The Longing“ vom Studio Seufz, ein 400 Tage-Spiel um das Warten auf das Erwachen des Königs. Oder an einen Kurzfilmwettbewerbsbeitrag: „Hardly Working“ von Total Refusal. Der Film bringt Statist*innen eines Videospiels ans Licht: NPCs. Die nicht-spielbaren Figuren erzeugen ein Gefühl der Normalität in der digitalen Welt. Mit ethnografischer Präzision beobachtet der Film eine Wäscherin, einen Stallknecht, eine Straßenkehrerin und einen Handwerker in ihrer täglichen Routine. Ihre Tätigkeitsschleifen werden nur durch Bugs durchbrochen. Als Sisyphus-Maschinen zeichnen sie ein plastisches Bild der Arbeit in Zeiten des Kapitalismus. Wir sehen zudem eine neue Entdeckung und Entwicklung der Film- und Medienkultur; die Arbeit mit analogen Mitteln wird weltweit vorangetrieben – und dies zum großen Teil in selbstverwalteten Kollektiven.

Welche Rolle spielen in diesem Szenario Festivals? Sind sie so etwas wie sichere Häfen des Experiments?

Die Frage lässt sich umkehren: Wie kann man in diesem Endgame-Status unserer Gesellschaft noch ein Festival machen? Wenn sich unsere Regierungen mit Rüstungsgesetzen beschäftigen, sind wir Festivals – damit betonen wir die Pluralität des Wortes – die ultimative Waffe, um Prototypen alternativer Gesellschaftsformen zu präsentieren und diskutieren.

Was sind dann Ihre Fragen?

Wenn schon fünf nach 12 ist, geht es unmittelbar darum: Wie wollen und können wir künftig leben? Wo findet Diskurs statt? Wie kann eine pluralistische Gesellschaft überleben, in der die Kluft zwischen Armen und Privilegierten immer großer wird? Eine Gesellschaft, die noch keine ernsthafte Migrationspolitik betreibt und die immer älter wird. Wie können wir Klimawandel und andere Herausforderungen begegnen? Wir brauchen Festivals, die als Input für Transformationsprozesse fungieren. Und vor allem, wir brauchen Film- und Medienkunst. Es ist wie in einer Zeile der Band Tocotronic in „Pure Vernunft“: „Wir brauchen dringend die neuen Lügen, die uns vor stumpfer Wahrheit warnen.“ Kurz: Festivals erproben mit innovativen Formaten, fundierter Netzwerkarbeit und bewussten Allianzen die Kinos der Zukunft.

Und von was leben all jene, die sich nicht nur durch die Pandemie, sondern auch durch diverse Stellschrauben in öffentlich-rechtlichen wie in privaten Sendern außen vor sehen? Wird Film ein Luxus-Segment? Oder anders: Was ist aus dem Traum geworden, die Digitalisierung demokratisiere das Experiment im Film?

Film- und Medienkunst müssen eng in Bildungsplänen verankert werden. Die sogenannte Demokratisierung der Filmkunst durch digitale Mittel benötigt eine Auseinandersetzung mit dem Medium. Film-und Medienkunst sind Archive unserer Gesellschaft. Dort wird unsere Geschichte erzählt, aber auch alle unseren Visionen. Film und Medienkunst muss als Kunstform deklariert werden.

Was sollte dies bewirken?

Das Filmförderungsgesetzt kann entsprechend aktualisiert werden und Filme und Kinos müssen vom wirtschaftlichen Zwang befreit werden.

Zum Festival an sich: Unterschiedliche Standorte – das kann man spannend finden. Sehnen sich die Menschen nicht aber immer nach dem einen Ort? Wie schwierig ist es, diesen einen Ort nicht zu haben?

Wir haben mit unserem Festivalzentrum Fitz und tri-bühne und der Ausstellung ein paar Meter weiter im Kunstbezirk diesen Festivalort. Gleichzeitig bespielen wir andere Institutionen und schaffen damit einen vielfältiger Dialog. Besonders freuen wir uns wie gesagt auf die Kooperation mit der Ifa-Galerie.

Kann der Filmwinter aber in diesen Räumen wirklich ein Magnet sein?

Unser Programm ist der Magnet. Sicher bräuchten wir einen größerem Festivalort auch für unsere Live Acts und passende Kinosäle. In unseren in Kinos umgebaute Theaterräumen kann nicht jedes Werk gezeigt werden, das stimmt. Dafür profitieren wir aber von einer unglaublichen inhaltlichen Synergie mit Fitz! und tri-bühne und können Formate entwickeln, die sonst nicht denkbar gewesen wären.

Zum Beispiel?

Denken wir an „In my room“ von Louis Stiens vom vergangenen Jahr, eine choreografische Umsetzung von Rainer Werner Fassinders Film „Die bittere Träne der Petra von Kant“.

Als Ziel geben Sie ein „Festival für alle“ an. Das ist natürlich politisch korrekt, aber beschneidet dieser Kurs den Filmwinter nicht?

Das „Festival für alle“ haben wir aus dem Motto des vergangenen Jahres übernommen: Together, ein Festival für Alle und Keinen. Das kommt aus Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“, im Untertitel „Ein Buch für Alle und Keinen“. Wir oszillieren mit unserem Festival zwischen dem Alle und Keinen und thematisieren genau diesen Widerspruch. Man kann kein Festival für Alle machen. Man kann aber mutig neue Zugänge schaffen.

Wie weit kann dies gehen?

Um etwa ernsthaft inklusiv zu arbeiten, braucht man eine ganz andere Infrastruktur, Finanzierung und Weiterbildung. Das darf man nicht vergessen, dass nicht jede Institution solche Schritte machen kann. Und dass diejenigen, die es machen, nur die Spitze des Eisbergs brechen. Momentan gibt es viele Überlegungen, wie man Kräfte bündeln kann. Der Filmwinter entwickelt Formate, um genau solche neuen Zugänge zu schaffen.

Zu sehen: der „Film aller Filme“

Wie kann das konkret aussehen?

Für den 36. Filmwinter haben wir mehrere Casting-Sessions in unterschiedlichen Orten durchgeführt, um den „Film aller Filmen“ zu drehen. Dabei ging es um Fragen wie: Was bewegt mich, wie sehe ich mich in einer Gesellschaft, welche Rolle hat die Kunst, wie will ich leben? Das war eine soziologische Feldforschung. Dabei haben wir Menschen kennengelernt, die unsere Sichtweise erweitert haben und das hat eine wichtige Rolle für die Entwicklung des Festivalprogramms gehabt.

Und ist der „Film aller Filme“ auch zu sehen?

Natürlich – zur Eröffnung am 12. Januar wird der „Film aller Filme“ gezeigt – um 19 Uhr in der tri-bühne.

Der Filmwinter ist erneut Bühne für StudentInnen-Filme verschiedener Hochschulen. Zudem Bühne für das Haus für Film und Medien, das auf dem Areal des Breuninger-Parkhauses im Stadtzentrum entstehen soll. Welche Bedeutung hat dieses Projekt aus Ihrer Sicht für die Stadt? Kommt es nicht viel zu spät, um überhaupt noch sichtbar zu werden?

Der Filmwinter ist Gründungsmitglied dieser außergewöhnlichen Initiative. Das Haus für Film und Medien wird Ort für Dialog, Bildung, Partizipation, Austausch. Ein Ort den nicht nur Stuttgart, sondern jede Stadt braucht. Das Haus für Film und Medien ist öffentlich gefördert, und die Stadt ist Bauherrin. Das heißt, es ist eine Institution, die sich nicht an Gewinn und nicht am Markt orientieren muss. Dort werden gesellschaftlichen Prozesse durch die Auseinandersetzung mit bewegten Bildern vorangetrieben wird. Die urbane Gesellschaft kann dort immer neu gedacht werden – das wird ein sozialer Ort für Alle.

Da sind Sie sich sicher?

Filmen und Medienkunst erzählen unsere Geschichten. Sie erzählen, wovon wir träumen, wie wir leben wollen, was uns bewegt und wie wir lieben und sterben möchten. In der neapolitanischen Krippe gibt es die Figur des schlafenden Schäfers namens Benino. Er träumt die Krippe. Ohne sein Träumen kann die Krippe gar nicht existieren. Das Haus für Film und Medien ist Benino. Die Träume, die dort diskutiert, präsentiert, produziert werden, stellen Zukunftsmodelle der Existenz unserer Gesellschaft dar.

Filmwinter-Daten

Eröffnung Mit der Eröffnung der Ausstellung Expanded Media und der Online-Performance „Davosboros“ von Nathaniel Sullivan in den Räumen des Kunstbezirks (Gustav-Siegle-Haus am Leonhardsplatz) beginnt am Donnerstag, 12. Januar, um 17 Uhr die 36. Ausgabe des Experimentalfilmfestes Filmwinter. Um 19 Uhr startet im Fitz-Theater (Tagblattturm, Eberhardstraße 61a) das Filmprogramm, gefeiert wird von 21 Uhr an im benachbarten Theater Tri-Bühne.

Programm Zu den Filmwinter-Höhepunkten (die Angebote sind kostenlos, Spenden sind erwünscht) zählen neben Expanded Media und Kurzfilmwettbewerb das Projekt „XBPMMM – Leaking Bodies, Porous Minds, M3lt1ng M4ch1n3s“ von Janne Kummer und Anton Krause im Fitz-Theater (am 13.1. von 16 bis 21 Uhr, am 14.1. von 19 bis 22 Uhr; jeweils 60 Minuten, Anmeldung erforderlich).

„Der Spaß hat uns im Würgegriff“

Auch Kinder sind Filmentdecker/-innen wie hier in „Ich sehe was, was Du nicht siehst“ (am 15.1. um 14 Uhr in der Tri-Bühne) von Alexandra Nebel.

„Der Spaß hat uns im Würgegriff“

Filmwinter-Team in der Spaßoffensive: Ivonne Richter, Giovanna Thiery und Marcus Kohlbach sowie Matthias Müller, erster Vorstand von Wand5 e. V.

„Der Spaß hat uns im Würgegriff“

Im Buggles Award / Landesmusikvideopreis zu sehen: Florian Siegerts Video zu „Virgo“ der Band Perigon

„Der Spaß hat uns im Würgegriff“

Still aus Felix Dierichs „Black Summer“ über die Buschbrände in Australien 2019/2020 – zu sehen in der Schau „Expanded Media“

„Der Spaß hat uns im Würgegriff“

Läuft in der Reihe Buggles Award / Landesmusikvideopreis: You Came 2 My Party (But I Was 2 High) von Cindy Gravitiy – Regie: Ludwig Rensch, Nicolas Schützinger, Lucas Fröschle

„Der Spaß hat uns im Würgegriff“

Im Internationalen Kurzfilmwettbewerb: Hardly Working von Total Refusal

„Der Spaß hat uns im Würgegriff“

Im Internationalen Kurzfilmwettbewerb: Wassermusik von Captain Fiffy (Olivia Artner, Gary Berger, Naima Noelle)

„Der Spaß hat uns im Würgegriff“

In der Reihe „Talents’ encounters“: „There’s always dance in abundance“ – Regie, Konzeption, Realisierung: Diana McCarty, Filipa César & Studierende der Merzakademie Stuttgart

„Der Spaß hat uns im Würgegriff“

In der Reihe „Patinnenfilme“: „Ice Merchants“, Portugal 2022, von João Gonzales

„Der Spaß hat uns im Würgegriff“

Im Kurzfilmwettbewerb: „Maetud Euroopas“ („Buried in Europe“), Estland 2022, von Hardi Volmer und Urmas Jõemees

„Der Spaß hat uns im Würgegriff“

In der Reihe „Zwei-Minuten-Kurzfilmpreis“ zu sehen: „Hoppenlaufriedhof“ von Alexandra Konst