Die Wahrheit in der Werbung

Das schöne, auch schonungslose Werk von Henri de Toulouse-Lautrec und anderen Meistern in der Galerie Stihl in Waiblingen

Großer Name und ein umfassender, internationaler Anspruch. Die Galerie Stihl Waiblingen zeigt in Zusammenarbeit mit dem Institut für Kulturaustausch in Tübingen und dem Musée d’Ixelles Brüssel fast das gesamte Plakatwerk des malenden Bestsellers Henri de Toulouse-Lautrec. Beigehängt sind die Arbeiten seiner Kollegen vom Künstlerviertel Montmartre.

Die Wahrheit in der Werbung

Ambassadeurs: Aristide Bruant, Lithografie von Henri de Toulouse-Lautrec aus dem Jahr 1892, Musée d’Ixelles, Brüssel. Fotos: Musée d’Ixelles-Bruxelles, Institut für Kulturaustausch, Tübingen 2018

Von Jörg Nolle

WAIBLINGEN. Paris an der Wende zum 20. Jahrhundert. Die Kunst hat sich hinlänglich von ihren Auftraggebern Kirche und Adel emanzipiert, aber es gibt jetzt ganz neue Verdienstmöglichkeiten für Maler: die Werbung, das Werbeplakat. Und da wären wir bei „La Bohème. Toulouse-Lautrec und die Meister von Montmartre“. Wenn die Kunst solchermaßen danach strebt, straßentauglich zu werden, wird sie selbst zur Nutznießerin. Da lässt sich was entwickeln im Drang zum schiergar Plakativen. Im Zwang, gesehen werden zu müssen. Den Reiz zu kitzeln.

Egal, ob da für plüschige Etablissements geworben wird oder für das Fahrrad als Fortbewegungsmittel. Es kommt wieder mal darauf an, was man daraus macht. Der unbestrittene Meister all derer, die sich da auf dem Künstlerhügel Montmartre herumtrieben, hat sich eben nicht verkauft. Sein Schlachtruf beim Zeichnen auf den Stein, für die Lithografie, lautete denn „Wahres, nicht Ideales“. Wahr soll sie sein, seine gewinnende Malerei. Man kann es sehr schön vergleichen in der Schau jetzt, in der Hauptsache bestückt mit Originalen aus dem Musée d’Ixelles aus Brüssel. Nehmen wir die werberische Hinführung der flanierenden Kundschaft in den großen, einer ganzen Epoche Stil gebenden Sündenpfuhl, ins Moulin Rouge. Mehrere Plakatmacher arbeiteten für dieses Haus.

Die Tänzerin Louise Weber und ein Herr im Profil

Toulouse-Lautrec nimmt sich die Aufgabe vor, zwei neue Stars ins rechte Licht zu setzen. Die Tänzerin Louise Weber, genannt La Goulue, die Gefräßige, macht das Volk mit ihrem Unterröcke schwingenden Cancan verrückt. Also nimmt die blendende Erscheinung mehr als die Hälfte des Motivs ein. Viel Zeichnung braucht es da nicht. Der Negativumriss mit ihrem weit nach oben geschwungenen Bein, abgehoben vor dem Schwarz-in-Schwarz des Publikums, das Toulouse-Lautrec nur als Schattenriss skizziert. Das reicht, um dem großen Blatt Magie einzuschreiben. Das Weiß der sicher nicht blütenreinen Dame saugt wie ein gefräßiger Nebel alle Aufmerksamkeit in sich auf. Im Vordergrund werden wir einem Herren im Profil gewahr. Der Mann ist, so wie ihn Toulouse-Lautrec zeichnet, die Groteske in Person. Es handelt sich ja auch um Valentin, den Knochenlosen. Aber beim Malerstar vom Montmartre schaut es so aus, als ob der Absinth sein Opfer fordert, so ausgezehrt die Figur. Kann so Werbung sein? Gute schon, weil das Verruchte ja den Markenkern des Moulin Rouge ausmacht.

Die Kuratorin Barbara Martin bietet dazu den Vergleich direkt nebendran. Wiederum ein Werk fürs Moulin Rouge, aber der Ausführende kämpft noch mit Konventionen. Das weniger große Talent denkt und zeichnet in Schablonen. Wenn es um die menschliche Figur geht, kommt es so bald zu Typen. In Paris bestens im Geschäft war ein gewisser Jules Chéret. Auf seine Weise wegweisend, keine Frage. Aber Paris fand bald ein Wort für Chérets weibliches Personal, einigte sich auf Chéretten. Jules Chérets Entwurf für das Moulin Rouge zeigt denn auch eine dieser austauschbaren, nur um die Nasenspitze herum keck lächelnden Mädchen. Das machte eben einen Unterschied. Barbara Martin zitiert dazu im Katalogtext den ersten deutschsprachigen Kritiker der Pariser Plakatkunst. Jean-Louis Sponsel schrieb 1897: „Anstatt des schönen und lockenden, aber falschen Scheins bei Chéret erscheinen Toulouse-Lautrecs Gestalten häufig in grausamer Wahrheit.“

Die Verdienste des Pioniers Jules Chéret

Es war die Zeit der industriellen Revolution. Produziert wurde in den Fabriken für einen Massenmarkt, der erst noch geschaffen werden wollte. Die Werbung wurde wichtig. Das alles muss rasend schnell gegangen sein, denn an der großen Stirnwand der Waiblinger Galerie wird ausdrücklich gezeigt, wie groß sehr wohl die Verdienste des Pioniers Jules Chéret sind. Er war’s, der den bis dahin dominierenden Text des Anschlags an den Rand schob und minimierte. Große, manchmal auch nur angeschnittene Figuren rückten ins Zentrum. Und der 1836 in Paris Geborene war es auch, der das Druckverfahren vereinfachte, beschleunigte, in seiner Wirkung indes steigerte. Der Mehrfarbendruck auf Stein ist ein aufwendiges Verfahren. Wie man mit einer Bürste Farbspritzer auf den Druckstock aufbringt und dabei den Eindruck eines diffusen Farbnebels erzeugt, das hat er vorgemacht. Das Changierende macht das Magnetisierende aus.

Und wenn wir schon beim Verfahren sind. Es ist frappierend, wie gut erhalten 120 Jahre alte Exponate sind, meist Leihgaben aus dem Brüsseler Museum. Das Papier, dem als Archivmaterial gern misstraut wird, hat die Farbe keineswegs gefressen und in Säure aufgelöst. Das Plakative knallt auch deshalb, weil die Farben so leuchten. Zum Glück hatte sich damals schnell eine Sammlerkultur aufgebaut. Begeisterte Käufer der neuen Kunst zogen die Plakate gleich aus den Druckereien heraus. Sonne und Regen leckten nicht an der Oberfläche.

Plakatmaler machten auf Neuerscheinungen aufmerksam

Diese umfassende, kluge Schau zeigt eben auch, wie um das Aufmerksamkeitserheischende schnell seinerseits eine Industrie erwuchs. Mit eigenen Ausstellungen. Mit Galerien, die den Schauraum Straße flankierten. Mit Büchern, die wiederum die auf dem Markt befindlichen Werke anpriesen. Andererseits machten Plakatmaler auf Neuerscheinungen aufmerksam. Emil Zola wird in der Waiblinger Galerie überlebensgroß beworben, es ist auch die Zeit der Fortsetzungsromane in Heftform. Es zeigt sich dabei, dass es wirklich eine Kunst für den kleinen Mann war. Die zwei Franc, die es fürs dekorative Blatt brauchte, konnte auch er aufbringen. Damit hing dann eine prächtige Illusionserzeugungsmaschine im Zimmer. Der aus Mähren stammende Maler Alfons Mucha arbeitete gerne mit Goldfarbe und Arabesken. Spötter sahen in seinen mit Lametta des Pariser Jugendstils aufgeladenen Damen die ersten Spaghetti-Monster.

Dann: Die Werbegrafik stand dort in Paris zum ersten Mal in schönster Blüte. Als eine Ikone des rasenden Fortschritts galt das Fahrrad. Holde Weiblichkeit reckt mit einem Arm ein Rennrad in den Vordergrund und stürmt dabei über Feld und Flur. Für Barbara Martin hat da die Vorstellung vom Götterboten Hermes mitgemalt. Das ikonografische Delacroix-Werk von 1830, eine Barbusige reckt die Trikolore hoch, mag aber auch die Hand geführt haben. So sind sie, die Franzosen. Kleiner mögen sie es nicht.

Paris wird immer als Moloch beschrieben, der das Land aussaugt. Wer gleich nach dem Eingang auf das erste Bild trifft, eine Fotografie, bekommt genau den Eindruck. Dass es eben just um 1900 geschah. Dass das Schneisenschlagen des Barons Haussmann so einschneidend ausfiel, dass es Kilometer von Bauzäunen gegeben haben muss. Und die riefen nach dem Plakat. Die Waiblinger Ausstellung zeigt all dies und schafft beides: Augenlust sowie die Ausstaffierung des Hinterstübchens mit Wissenswertem über den Weltkunst gewordenen Aufbruch unserer Nachbarn.

Eröffnet wird die Ausstellung jetzt am Freitag, 25. Januar, um 19 Uhr, und wie immer in der benachbarten Kunstschule Unteres Remstal, Weingärtner Vorstadt 14. Zu sehen ist die Schau bis zum 22. April dienstags bis sonntags von 11 bis 18 Uhr.

Die Wahrheit in der Werbung

Jules Chéret war in Paris bestens im Geschäft: Hier seine Lithografie „Théâtre national de l’Opéra. Carnaval“ aus dem Jahr 1892. Eine Leihgabe des Musée d’Ixelles, Brüssel.