Dr. Jekyll und Mr. Hyde auf der Leinwand in Backnang

Eine außergewöhnliche multimediale Bühnenbearbeitung der schaurigen Novelle von Robert Louis Stevenson im Backnanger Bürgerhaus.

Dr. Jekyll und Mr. Hyde auf der Leinwand in Backnang

Bei der Aufführung saßen eine Schauspielerin und drei Schauspieler mit Mikrofonen ausgestattet an vier Pulten vor der Leinwand. Foto: Alexander Becher

Von Jutta Rieger-Ehrmann

Backnang. Seit den Anfängen des Christentums bewegt die Frage, wie es sein kann, dass ein allmächtiger Gott es zulässt, dass Menschen Böses tun und wiederum durch das Böse vielfachen Leiden ausgesetzt sind, die Theologie und die Gläubigen gleichermaßen. Die endgültige Antwort steht noch aus. Laut der Schauergeschichte „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ des schottischen Schriftstellers Robert Louis Stevenson (1850 bis 1894) aus dem Jahr 1886, die schon damals ein Erfolg war, ist das Böse nicht nur in der Welt, sondern in uns selbst. Das Gute und das Böse: Beides steckt in uns allen.

Der Selbstversuch gerät außer Kontrolle

Zum Buchinhalt: Der angesehene Arzt Henry Jekyll versucht im viktorianischen London auf wissenschaftlichem Weg der Sache auf den Grund zu gehen. Er arbeitet in seinem Labor mit verbotenen Substanzen, um einen Trank zuzubereiten, der in ihm selbst das Böse vom Guten isolieren soll, um es zum Vorschein zu bringen, zu untersuchen und abzuspalten. Das Experiment gelingt: Er schafft eine bösartige Version seiner selbst, den empathie- und gewissenlosen Edward Hyde. Doch der Selbstversuch gerät außer Kontrolle. Jekyll verwandelt sich auch ohne Vorwarnung und ohne Trank in seinen Doppelgänger, sogar am helllichten Tag. Er lebt ohne Moral seine Triebe aus und begeht als Hyde schreckliche Taten bis hin zu bestialischen Morden.

Da ihm einige Substanzen seines Tranks ausgehen, fällt es ihm immer schwerer, sich in Jekyll zurückzuverwandeln. Von einem gemeinsamen Freund erfährt sein Anwalt Utterson von den merkwürdigen Vorgängen. Jekylls Hausdiener Poole berichtet ihm, dass Hyde nach Belieben im Haus des Doktors ein- und ausgehen könne. Utterson beschattet ihn, stellt Jekyll zur Rede, doch erst nach dem Selbstmord Hydes wird das Rätsel gelöst. Henry Jekyll besteht darauf, dass er durch Hydes Taten nicht beschmutzt werden könne. Bis zuletzt weigert er sich, zu akzeptieren, dass er für seine und die Taten seines Doppelgängers allein verantwortlich ist.

Fall kommt als Zeichentrick-Novelle auf die Bühne

Eine völlig neue Bearbeitung des Stoffs erwartete das Publikum am vergangenen Samstagabend im Bürgerhaus. Die Produktion war ursprünglich für den 17. November 2022 geplant, im Rahmen der Backnanger Literatour, Da es jedoch Krankheitsfälle im Ensemble gab, musste sie verschoben werden. Die Mediabühne, eine Hamburger Künstlergruppe, bestehend aus den drei Mitgliedern Annelie Krügel (Regie, Darstellung und kaufmännische Leitung), Klaus Ude (Buch, Musik und Animation) und Mathias Borchardt (technische Leitung und Bauten) brachte den gruseligen Fall des Londoner Arztes aus dem 19. Jahrhundert als Multimedia-Inszenierung und als Zeichentrick-Novelle (Animation Novel, abgeleitet von Graphic Novel) auf die Bühne.

In der inhaltlich erweiterten Hamburger Fassung, der eine Hörspielbearbeitung der Mediabühne zugrunde liegt, nahmen die Beziehungen Jekylls zu Frauen einen recht großen Raum ein, so zu einer Dame aus dem Milieu, Lillian Grey, die ihm die Orte des Amüsements zeigt, und zu seiner Verlobten Rose.

Schattenspiele kreieren Atmosphäre

Eine Schauspielerin und drei Schauspieler saßen mit Mikrofonen ausgestattet an vier Pulten vor der Leinwand, frontal zum Publikum, und interpretierten die Figuren aus dem Manuskript. Auf der Leinwand wurde durch poetisch wirkende Schattenspieltrickfilme die Atmosphäre im London der Jahrhundertwende in seinen unterschiedlichen Vierteln lebendig – dem West End der gut betuchten Gesellschaft und dem düsteren und verruchten East End, wo Hyde vor allem sein Unwesen treibt.

Klappernde Pferdehufe und ratternde Fuhrwerke waren zu sehen und zu hören sowie die Geräuschkulisse einer Metropole, untermalt von einem beeindruckenden und imposanten Soundtrack. Als Stilistik für den Trickfilm wurde der Scherenschnitt gewählt, was es manchmal etwas schwierig machte, die Figuren zu erkennen. Die Farbgebung bewegte sich hauptsächlich in Schwarz und Weiß. Die Ästhetik dieser Gestaltungsmittel ließ den Horror etwas in den Hintergrund treten, deutlich wurde jedoch die Auseinandersetzung mit der psychologischen Ebene – vor allem der Panik des Doktors angesichts des verhängnisvollen Kontrollverlusts und der Schuldfrage.

Die Inszenierung der Mediabühne verband in gekonnter Weise Elemente des Theaters und des Films zu einem eindringlichen und faszinierenden Gesamtkunstwerk. Es war ein ganz neuer Zugang zu einem klassischen und immer noch aktuellen Stoff und ein nachhaltiges Bühnenerlebnis.