Ein ganzes Dorfwird zum Spielort

Theater Rietenau zeigt an drei Tagen das Stück „Blaues Wunder – Chronik eines Falls“

Die Zeit scheint zurückgedreht im beschaulichen Ort Rietenau. Frauen in knatschbunten Kleidern sind auf den Straßen zu sehen, genauso wie bäuerliche Alltagskluft. An sieben Stationen entführte das Theater Rietenau die Besucher an drei Tagen in die Umbrüche der 1970er-Jahre im Stück „Blaues Wunder – Chronik eines Falls“.

Ein ganzes Dorf
wird zum Spielort

Die Spielfreude der Akteure überträgt sich auf die Theaterbesucher. Diese erleben eine reizende und anspruchsvolle Inszenierung.

Von Claudia Ackermann

ASPACH. Rund 200 Besucher haben sich auf dem Platz beim Gemeindehaus unterhalb der Kirche in Rietenau eingefunden bei der ausverkauften Premiere des Stationentheaters. Tische und Bänke sind aufgebaut. Unvermittelt ist das Publikum mittendrin im dörflichen Geschehen. Im schwarzen Anzug taucht Siggi (Fritz Bareiß) auf. Der Mann mit dem etwas längeren Haar ist auf dem Weg zur Beerdigung seiner Frau. Die Stiege im Haus sei sie heruntergefallen, erfährt das Publikum. Ein klassischer Genickbruch. Doch Siggi ist kein Kind von Traurigkeit. Er habe sich sowieso scheiden lassen wollen, um mit Melli (Simone Kirschbaum) zusammen zu sein, die im Nachbargarten des Platzes steht und mit dem frisch gebackenen Witwer flirtet.

Die Besucher werden in vier Gruppen mit jeweils 50 Personen von Station zu Station geführt

Die Besucher haben Eintrittskarten in verschiedenen Farben erhalten und werden in vier Gruppen mit jeweils 50 Personen aufgeteilt. In kurzen Abständen begeben sich diese zu den Stationen des Theaterspiels im Ort. Bei der Beerdigung an der Kirche wird bereits deutlich, dass Knatsch und Tratsch das Dorfleben bestimmen. Nicht einmal der Pfarrer (Dieter Knoll) will ein gutes Wort für die Verstorbene einlegen. Besonders knitz ist der Totengräber (Rolf Butsch), der sich als bauernschlauer Hobby-Philosoph erweist. Das Buch hat Lea Butsch geschrieben und zusammen mit ihrem Mann Regie geführt. Bei der Aufführung führt sie eine der Gruppen als „Reiseleiterin“ von Station zu Station. Die Umbrüche jener Zeit in der dörflichen Region zeigt das Stück auf, das im Jahr 1972 spielt. Siggi hat sich gegen ein Leben als Bauer entschieden und ist ein erfolgreicher Busunternehmer. Die Sehnsucht nach Reisen in südeuropäische Länder wie Italien ist groß. Die nächste Station führt die Besucher ins Gemeindehaus, wo sie Teil einer rasanten Busfahrt zum Gardasee werden. Auf einer Leinwand spielt sich die Fahrt im Zeitraffer über die Autobahn bis hin zu den engen Straßen mit italienischem Flair ab. Die quirlige Reiseleiterin Bella Berg (Carina Weirather-Balleyer) im Hippie-Look sorgt für Stimmung. Gut gelaunt stimmen die Besucher ein, wenn der Song „Mendocino“ erklingt.

Weiter geht es zum Dorfplatz, wo eine Gruppe von Damen vor einem Kegelausflug schon mal mit Sekt vorglüht. Es geht um Themen wie sexuelle Revolution und Antibabypille. Den Siggi würden sie nicht von der Bettkante stoßen. Rita (Silvia Jilg) arbeitet in einem Hotel namens Sonnenhof und plaudert aus dem Nähkästchen, was sich da im Rahmen der sexuellen Freiheit in der Nacht so alles abspielt. Zeitgeschehen ist eingeflochten, wie die RAF oder die Kanzlerschaft von Willy Brandt. „Wenn Frauen das Sagen hätten, das wäre doch viel besser“, hatten die Frauen damals die Hoffnung. Der Fußmarsch geht weiter durch Rietenau. Vor einem älteren Wohnhaus unterhält sich die Schwester (Gerlinde Meyer) der verstorbenen Gerda mit ihrem Mann. Verdachtsmomente tauchen auf. Hat Siggi seine Frau nur wegen des Geldes geheiratet und aus dem Grund, dass sie auf seine vier Kinder aus erster Ehe aufpasst? Auch an der nächsten Station im Hof bei Willi (Siegfried Mauthe) verdichtet sich der Verdacht gegen Siggi. Eine hohe Lebensversicherung sei auf das Ableben von Gerda abgeschlossen worden. Herrlich, wie sich der Rotweintrinkende in Rage redet. Für die Laienschauspieler ist es eine große Herausforderung. Schließlich kommen im Zehnminutentakt vier Gruppen an und wollen jeweils Höchstleistungen sehen.

Die Band „Cheese Noodles“ lässt Klassiker aus den 1970er-Jahren erklingen

Es geht durch Schrebergärten entlang des Bachlaufs in Rietenau. Am Rande spielt Sonja Michler Akkordeon. Dem Totengräber, der bei privaten Arbeiten in der Natur Weisheiten von sich gibt, oder den feierfreudigen Damen, die nicht mehr an Siggis Unschuld glauben, begegnet man wieder.

„Liab’s Herz brich net“ heißt die Szene auf der Bank an einer Linde im Ort. Sogar Melli hat sich gegen den einst so beliebten Siggi gewendet. Am Vereinsheim des Musikvereins Rietenau, wo wiederum Tische und Bänke aufgebaut sind, kommt es für die Besuchergruppen zur Auflösung.

Inzwischen ist es dunkel geworden und die Band „Cheese Noodles“ spielt Klassiker aus den 1970er-Jahren bei einer „Rietenau-Kirmes“. Gespräche auf der beleuchteten Bühne über das Zeitgeschehen, etwa die Gemeindereform, sind in vollem Gange. Das Drama um Siggi löst sich auf. Zu „Nights in White Satin“ wird beim Stehblues gekuschelt, bevor das unterhaltsame, zweieinhalbstündige Stationentheater mit Toast Hawaii und Rock aus den 1970ern ausklingt.

Ein ganzes Dorf
wird zum Spielort

Die Besucher erleben an drei Tagen in Rietenau eine Zeitreise. Fotos: A. Becher