Einzigartige Feier der Worte mit Tiefgang

Poet und Schauspieler Timo Brunke brilliert als Star der Spoken-Word-Szene mit seinem Literarischen Salon „Orpheus Downtown“ im Bürgerhaus Backnang

Unter dem Titel „Orpheus Downtown“ verblüffte der sprachbesessene Stuttgarter Timo Brunke am Samstagabend sein Publikum im Backnanger Bürgerhaus mit einer einzigartigen Feier der Worte. Ein amüsantes Programm mit Tiefgang ganz in der Tradition großer Dichter der Klassik und Moderne.

Einzigartige Feier der Worte mit Tiefgang

Der Wortakrobat Timo Brunke bescherte den Besuchern im Bürgerhaus mit seinem sagenhaften Humor einen unvergesslichen Abend. Foto: J. Fiedler

Von Carmen Warstat

BACKNANG. Kommen, der Sprache sich öffnen, lauschen und lachen – das empfiehlt Timo Brunke kürzlich seinen Gästen im BKZ-Interview. „Berührt werden“ und „an wilden Wörtern sich berauschen“, so legte er es seinem Publikum ans Herz. Und in der Tat macht seine Kunst den literaturliebenden Rezipienten wehrlos und beinahe süchtig. Der 47-jährige hat es vor allem auf die Lyrik abgesehen und schöpft tief, ohne je akademisch daherzukommen oder seine ganz offenbar geliebten Inspirationsquellen beim Namen zu nennen. Er entführt uns mit dem Text „Riesenstandort“ ins Innere der Großstadt, mehr als heiter in der Performance, zum Kaputtlachen eigentlich, zugleich: bitter, bitter, bitter. Ein an Allen Ginsberg erinnerndes Geheul und Geratter von Humankapitalumschlagplätzen, Cracksalad, Expansionspansen, Infoimperien, Anzugarmut und Attentatattacken, das ohne Vulgärsprache auskommt. „Wir beschwören den Abgrund“, ruft Brunke und ein ausgeatmetes „Lasst uns Menschen werden!“

Hochkonzentriert zelebriert der Poet eines seiner Produkte nach dem anderen. Verliebt in die Alliteration stellt er „Villenvisagen“ in den „Flirtwind“, lässt Fassaden bröckeln und bröseln und „Leinen voller Laken“ vor dem inneren Auge erscheinen. Das Gedicht „Häuser“ macht Stadtgesichter zu „Fassadenvisagen“ und zeigt: „Da, ein Reihenhaus, dutzendweis, mit Make-up verklinkert, die Linien gezogen“, und es lässt hören: „’Gut siehst du aus, ungelogen!‘ Nur Vorsicht, dir bröckelt da was …“

Aus dem Leben gegriffen und doch hochpoetisch ebenfalls: Brunkes Entführung seines Publikums in den Supermarkt, die er „Tetra-Ode im Übermarkt“ nennt und mit flott flatternden Fahnen und „Birnen im Beutel“ sowie anachronistischem „fürwahr“ und „Sieh!“ und „jetzo“ und „doch“ und „itzt“ und „ach“ und „Odem“ und Genitiv, nicht zuletzt in der Metrik auch, an Hölderlin und Lessing erinnern lässt, indem er ein Spannungsfeld herstellt zwischen aktuell Alltäglichem und hoher Vergeistigung, zwischen Supermarktwaage („Wie war gleich die Nummer der blöden Früchte?!“) und Äther. Im Tone einer Hölderlinschen Stadt- oder Naturanbetung gleich, macht Timo Brunke so die Absurdität heutigen Konsumwahns zu seinem Thema, in „Sortimentopolis“, einer „Welt, in der es immer nur ums Eck geht“.

Und auch Goethe lässt grüßen. Dessen „Willkommen und Abschied“ stellt Brunke als „Vorgedicht“ der großen Liebeserklärung „Primavera“ voran, in der er des Erlkönigs Nebelschleier mit nächtlich „ungeheuerliche(n) Autoherden“ und das klassische Pferd mit dem „Fahrradhengst“ verwebt. Hymnisch besingt der Stuttgarter die Dauer seiner Liebe, die Dauer liebend und „Patmos“ hereinspielend, Hölderlin wieder.

„Moralinsauer und dafür auch sinnarm“ nennt Brunke die „letztjährigen Tage des skandinavischen Films“, die er hinreißend komisch auf die Schippe nimmt, um gleich darauf einen Kiezjungen vorzustellen: Den Gangsta-Rapper Mc Fat Kiss. Mit vollem Körpereinsatz und in überzeugendem Gangsta-Sprech zeigt Brunke hier seine unglaubliche Beobachtungsgabe, seine Gegenwärtigkeit im Heute, seine enorme Vielseitigkeit. Er skizziert die Situation eines Jugendlichen, die nicht so witzig ist, wie sie scheint. Das Gelächter des Publikums reagiert denn auch eher auf Brunkes verblüffendes Können, als dass es seine Figur Mc Kiss verspottet.

Goethes Mignon übersetzt auf schwäbisch und deutschtürkisch

Deren Duktus kommt noch einmal zu Gehör, als der großartige Performer Brunke Goethes „Mignon“ („Kennst du das Land…“) strophenweise jeweils ins Deutschtürkische und ins Schwäbische übersetzt. Dieser Poet ist in vielen Sprachen, Kulturen und Zeiten zu Haus und hat einen sagenhaften Humor, den er sich gerade auch in der Tiefe nicht nehmen lässt. Auch „Mein Millennien-Memory Zum Jahreswechsel 1999 - 2000“, übrigens in Backnang verfasst, beweist es. Hier „rekapituliert“ er 2000 Jahre Weltgeschichte, wobei er all die berühmten Protagonisten, Helden und Verbrecher, Genies und Schurken in alltägliche Situationen stellt und so von ihren Sockeln herunterholt. Nicht ohne neben Kaiser Konstantin, Theoderich, Attila und einem König Yakatumi, Kalifen und Forschern, Kennedy und den Wikingern, Gutenberg und Dracula, Luther und Einstein, Armstrong und Gorbatschow sowie sehr vielen anderen – auch Hänsel und Gretel – unterzubringen. Ein unvergleichlicher Abend.