„Es geht darum, dass alle profitieren“

Das Interview: Erik Flügge spricht über seine jüngste Veröffentlichung „Egoismus – Wie wir dem Zwang entkommen, anderen zu schaden“. Das Buch landete schon in der ersten Woche auf Platz 55 der Hardcover-Bestsellerliste.

„Es geht darum, dass alle profitieren“

Erik Flügge bekam für sein Konzept einer Politik, die den Egoismus als Antrieb nutzt für eine bessere Welt, viele positive Feedbacks. Unter anderem von Georg Restle, „Monitor“-Redaktionsleiter, und Aleida Assmann, Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels. Foto: Ruprecht Stempell

Von Ingrid Knack

Sie haben mich überrascht mit Ihrem Ansatz eines Strukturwandels in der Gesellschaft. Beim Thema Egoismus dachte ich zunächst vor allem an Benehmen ohne Rücksicht auf Verluste, Selfie-Sucht und Selbstüberhöhung. Ihr Ansatz ist anders, sehr komplex.

Bei dem, was Sie gerade gesagt haben, würde ich ja komplett mitgehen, dass wir eine Gesellschaft haben, in der Eigenvorsorge, Selfies machen, sich selbst vermarkten, sich selbst in den Mittelpunkt rücken eine sehr typische Eigenschaft ist. Sie können Egoismus aber nicht einfach verbieten. Deshalb muss man fragen: Warum ist das eigentlich so?

Ja warum?

Ich bin mir sicher, dass das das Ergebnis eines Prozesses ist, der seit mehreren Jahrzehnten anhält, in dem immer gemeinschaftliche Institutionen aufgelöst wurden und individuelle Lösungen präferiert wurden. Eigenverantwortung überall. Konkret: Die Rente reicht nicht mehr. Sorgt dafür, dass ihr selber für das Alter vorsorgt.

Da wären wir bei der leidigen Eigenverantwortungspredigt, wie Sie sagen. Sie kommen auf ganz andere Lösungen. Zum Beispiel, Arbeitnehmer an Gewinnen zu beteiligen.

Weil es darum geht, dass alle profitieren und nicht nur Einzelne. Wir kennen das in Baden-Württemberg gut. Bei Daimler zum Beispiel wird das gemacht, dass die Leute an Gewinnen beteiligt werden. Das sorgt dafür, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter extrem loyal zum Unternehmen sind und Lust haben, da zu arbeiten. Das hilft auch, Fachkräfte anzuziehen.

Ihr Vorschlag ist aber noch etwas anders, als es bei diesen Firmen praktiziert wird.

Lasst uns doch gesetzlich regeln, wann immer ein Eigentümer Gewinne aus dem Unternehmen entnimmt und ins Privatvermögen überführt, dass dann die Hälfte dieses Gewinns auch unter allen, die in diesem Betrieb arbeiten, ausgeschüttet wird. Dann kriege ich einen ganz spannenden Effekt: Ich sorge dafür, dass auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zum Beispiel an Automatisierung, an den Maschinen, die da stehen, mitverdienen. Denn im Augenblick haben wir eine Konkurrenzsituation: Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schauen auf die neue Maschine und denken: Huch, hoffentlich kostet die mich nachher nicht meinen Job. Sie sind klugerweise egoistisch gegen Innovation. Mit der Gewinnbeteiligung aber würde eine gemeinsame Perspektive von Wertschöpfung gestärkt werden und eben auch dieses Miteinander, dieses Zusammen-in-die-gleiche-Richtung-Denken, stärker gemacht werden.

Ich bin mir sicher, dass viele Arbeitnehmer bei dem, was sie in ihren Betrieben erleben, nicht daran glauben, dass dies in ihrer Firma umsetzbar ist.

Ich selber leite zwei Unternehmen, die mir auch selbst gehören. Ich glaube, dass wir in der Frage der Gewinnausschüttung einen solchen gesetzlichen Rahmen herstellen können. Wo dieses Teilen von Gewinnen ansetzen muss, ist nicht dort, wo der Betrieb Gewinne macht, die er wieder reinvestiert. Sondern dort, wo man aus dem Unternehmen Geld herausnimmt. Natürlich ist das anders, als wir heute das Arbeitsleben kennen. Das Arbeitsleben heute macht oftmals Druck. Und wenn wir das nicht umbauen, bleibt dieser Druck und verstärkt sich immer weiter. Der Arbeitgeber macht Gewinn, und der landet auf dem Privatkonto der Eigentümer – und der Stress landet auf dem Privatkonto von allen, die für diesen Gewinn arbeiten.

Gab es für Sie ganz persönlich einen oder mehrere Schlüsselmomente, die dazu führten, sich intensiv mit dem Thema „Egoismus – und wie wir dem Zwang entkommen, anderen zu schaden“ auseinanderzusetzen?

Ein Schlüsselerlebnis haben wir, glaube ich, alle miteinander gemacht. Das ist das Auftreten der Coronapandemie und der Moment, als die Kanzlerin vor die Presse und die Bevölkerung trat und erklärt hat, nachdem wir jahrzehntelang in unserer Gesellschaft immer das Mantra gehört hatten von der Eigenvorsorge, der Eigenverantwortung, der Selbstentwicklung, der Persönlichkeitsentwicklung – alles das haben wir ja Ewigkeiten gehört –, und dann tritt die Kanzlerin vor die Bevölkerung und sagt: Wir müssen jetzt zusammenhalten, sonst sterben hier Leute.

Das hat ja zunächst gut geklappt.

Dabei fand ich absolut auffällig, dass sich das im ersten Moment natürlich schwierig, ja überfordernd angehört hat. Aber alle sind darauf eingeschwenkt und haben erst mal gesagt: Super, da machen wir mit. Die ersten Wochen des Zuhausebleibens haben ja auch super funktioniert. Dann haben die Jüngeren beispielsweise gesagt: Ich persönlich bin ja gar nicht gefährdet. Die nächsten stellten fest: In meinem Umfeld gibt’s ja gar keine Fälle. Also hat der gemeinschaftliche Erfolg tatsächlich dafür gesorgt, dass immer mehr Leute aus dieser individuellen Perspektive heraus gesagt haben: Ich finde das eigentlich doof, was wir hier machen. Es macht ja auch keinen Spaß, monatelang sein Leben umzustellen.

Eine Sicht nur aus der eigenen Perspektive.

Daran merkt man, wie schwach bei uns der Gedanke entwickelt ist, auch für das Wohl des anderen eine eigene Einschränkung mit in Kauf zu nehmen. Natürlich ist es nicht schön, sich einzuschränken. Aber eine Gesellschaft, die das nicht mehr schafft, die scheitert eben auch irgendwann. Und wir sehen es jetzt wieder an den Fallzahlen. Die sind ja nur das Ergebnis des Ausbrechens der Leute aus den Regelwerken. Es sind Leute, die einfach sagen: Nun ja, das ist mir jetzt nicht so wichtig, weil mich kann’s ja nicht erwischen, ich bin ja jung genug, dass es einen leichten Verlauf nimmt. Aber was man dabei nicht bedenkt: dass man selber vielleicht die Person ist, die drei ältere ansteckt, die dann daran versterben. Das ist etwas, was mir noch einmal sehr, sehr deutlich gesagt hat, dass wir eine Struktur eines gesellschaftlichen Zusammenlebens brauchen, die bedingt, dass stärker darüber nachgedacht wird, wie auch das Wohl des anderen zu suchen ist und nicht nur das eigene. Das war der Auslöser für mich, das Buch zu schreiben.

Auch das Thema Verbraucherschutz gehört zu Ihren Themen. Sie erzählen vom Kauf einer Thunfischdose mit einem Label, das Sie in die Irre geführt hat. Sie fordern, dass es irreführende Labels gar nicht mehr geben darf.

Es ist weniger eine Forderung als ein Konzept, das besagt: Lass uns mit der Idee des mündigen Verbrauchers und der mündigen Verbraucherin aufhören. Denn wir können uns unmöglich in allen Fragen des Lebens informieren. Aus der Forschung kennen wir das Prinzip, dass es nicht dieses einzelne Genie gibt, das alles löst. Sondern dass nur das Zusammenspiel all der Denkenden am Ende etwas löst. Beim Konsum – und der ist ja eine wesentliche Grundlage unseres Wirtschaftens und Handelns auch im Alltag – lösen wir das derzeit genau andersherum. Da ignorieren wir das Wissen, das alle zusammen haben. Wir sagen: Das Individuum soll diese Entscheidung treffen, die aber immer fehlerbeladen ist.

Wie also sieht Ihr Ansatz aus?

Ich möchte, dass wir Politik machen in dem Sinne, wie Politik gedacht ist in einer Demokratie. Dass wir die Frage stellen: Wollen wir, dass in Deutschland Fisch verkauft wird, der dadurch ausstirbt, oder wollen wir das nicht? Und wenn wir sagen – wovon ich ausgehe –, dass eine Mehrheit das nicht will, dann muss man gesetzlich dafür sorgen, dass nur Fische in Deutschland verkauft werden können, die mit Methoden gefangen wurden, die garantieren, dass dieser Fisch nicht ausstirbt. Gleiches beim Tierwohl. Wenn man konsequent den Standard für Tierhaltung erhöht und sagt, was anderes darf hier nicht verkauft werden, dann nehmen Sie den Leuten das Problem, dass sie nicht wissen, welches Produkt aus guter und welches aus schlechter Tierhaltung resultiert. Sondern dann weiß ich, wann immer ich ein tierisches Produkt kaufe – auch das billigste: Dieses Tier hat nicht übermäßig dafür gelitten.

Sie thematisieren in Ihrem Buch ja viele Bereiche des Lebens, nicht nur Wirtschaft und Arbeit, sondern auch Wohnen, Bildung, Ökologie, Verkehr, Europa et cetera.

Es war mir wichtig, mit diesem Buch den Gedanken von „Lass uns das Gemeinwesen so bauen, dass die eigene Vorteilssuche auch dem Vorteil aller anderen dient“ systematisch zu beschreiben und durchzugehen. Damit man auf dem immer gleichen Prinzip ganz viele unterschiedliche Politiken entwickeln und als Politiker zum Beispiel auch sagen kann: Liebe Wirtschaft, ihr könnt uns den Vorschlag gerne so machen. Aber wir machen das nur unter der Bedingung, dass ihr uns plausibel sagen könnt, dass das, was ihr vorschlagt, nicht nur eurem, sondern dem Vorteil auch aller anderen dient. Dafür müsste – das ist mir auch klar – eine politische Partei im deutschen Parteienspektrum sagen: Den Ansatz finden wir so überzeugend, den wollen wir bei uns Programm werden lassen. Und dafür kommen ein paar Parteien infrage.

Wenn ich Sie richtig verstanden habe, schlagen Sie der SPD Ihr Konzept vor. Die Arbeit des Grundkonflikts Egoismus.

Ich schlage der SPD ganz konkret vor: Tretet gegen diesen Egoismus in unserer Gesellschaft an, der uns allen furchtbar auf die Nerven geht, der unseren Alltag belastet und der so viele Menschen in Deutschland stresst. Egoismus kann man eben nicht verbieten. Deswegen muss man ihn, wenn man ihn einhegen will, zu einer produktiven Antriebskraft machen. Indem man sagt: Die ganze Politik, die wir machen, zielt darauf, dass die Vorteilssuche des Einzelnen zum Vorteil aller anderen wird. Und wir schaffen den Rahmen immer so, dass die wahrscheinlichste Möglichkeit, dass du deinen eigenen Vorteil kriegst, die ist, in der du auch anderen einen Vorteil gibst.

Erik Flügge

Erik Flügge ist 1986 in Backnang geboren und in Allmersbach im Tal aufgewachsen. Er besuchte das Bildungszentrum Weissacher Tal und war in der katholischen Jugendarbeit in Allmersbach und später auf Kreisebene tätig. Heute ist der Wahlkölner politischer Stratege, Dozent und Experte für Beteiligungsprozesse. Er ist Geschäftsführer der Squirrel&Nuts Gesellschaft für strategische Beratung. Seine Bücher „Der Jargon der Betroffenheit“ und „Eine Kirche für viele statt heiligem Rest“ wurden zu Spiegel-Bestsellern. Er ist Autor der ZeitSerie „Jacobs’ Werk und Flügges Beitrag“.

Das Buch „Egoismus – Wie wir dem Zwang entkommen, anderen zu schaden“ (111 Seiten) ist im Dietz-Verlag erschienen.