„Fremd ist der Fremde nur in der Fremde“

Ein faszinierendes viertägiges Theaterfest ist gestern zu Ende gegangen. Unter dem Titel „Vereinigt Euch!“ hatte das Backnanger Bandhaus-Theater mit seiner Bürgerbühne eingeladen. Der Anlass: 30 Jahre Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten. Die Hoffnung: Auch außerhalb der Theaterwelt etwas zu bewirken.

„Fremd ist der Fremde nur in der Fremde“

Das Theater „Die Bühne“ aus Dresden reiht in seinem Stück Klischees über den Osten aneinander, um sie am Ende als Vorurteile zu entlarven und zu bannen. Foto: A. Becher

Von Carmen Warstat

BACKNANG. Das Resümee des Theatertreffens, an dem Amateurtheater aus Ost und West teilnahmen, ist: überwältigend. Viele verschiedene Facetten des Themas wurden beleuchtet. Beobachtungen an einem intensiven Wochenende:

Grußworte. Auch wenn Theaterleiterin Jasmin Meindl davon sprach, dass man mit der Festivalidee „bei der Stadt offene Türen eingerannt“ habe, formulierte Festredner Robert Antretter es so: „Unsere Stadt hätte arm ausgesehen, was die Feierlichkeiten zum 3. Oktober betrifft, wenn es das Bandhaus nicht gäbe.“ Eröffnet wurde das Fest vom Landtagsabgeordneten Gernot Gruber, der an Michael Gorbatschow und Willy Brandt sowie an den Mut der Demonstranten in Ostdeutschland erinnerte und den Teilnehmern riet: „Bleiben Sie auf Abstand! Kommen Sie sich mit Kopf und Herz nahe!“ Oberbürgermeister Frank Nopper sprach in seinem im Programmheft abgedruckten Grußwort vom Glücksfall der Wiedervereinigung und einem Fest der Freude: „Vereinigt Euch! – nach innen nahe, nach außen mit Abstand.“ Co-Theaterleiterin Juliane Putzmann grüßte die Gäste mit Karl Valentins Worten: „Fremd ist der Fremde nur in der Fremde.“

Zelt. Ein großes Zelt am Stiftshof war der Treffpunkt vor, nach, zwischen den Proben, Aufführungen und Workshops. Hier wurde gefrühstückt und gevespert, auch mal musiziert und vor allem entspannt geplaudert, heiß diskutiert und nicht zuletzt gelacht.

Corona. Als „Coronabeauftragte“ wachte hauptsächlich die Theatermitarbeiterin Denise Kurmann über die Einhaltung der Bestimmungen. Hier und da musste jemand daran erinnert werden, aber auf die Disziplin und Akzeptanz vonseiten aller Festivalteilnehmer und Gäste war Verlass.

Fangfragen. Eine Art Spiel, das Kennenlernen und Kommunikation ein wenig anstoßen sollte, hieß „Fangfragen“. Es erstreckte sich über die gesamte Festivalzeit und wurde mit Wohlwollen und Humor angenommen.

Workshops und Werkschau. In den Workshops unter der Leitung von Isabelle Stolzenburg, Christian Schidlowsky, Florian Frenzel, Jasmin Meindl und Christian Muggenthaler wurde intensiv gearbeitet und dazugelernt. In nur drei Minuten Schreibzeit entstanden in einem Team auf einen Bildimpuls hin beispielsweise außerordentlich dichte poetische Texte von beeindruckender Vielfalt. Ein anderes Team verarbeitete in Zweiergruppen den immer gleichen Dialog zu den verschiedensten Szenen. Gegenseitiges Feedback und die Erfahrung der Workshopleiter gaben neue Impulse für die Überarbeitung der Entwürfe sowie für die Amateurtheaterarbeit insgesamt. In einer Werkschau zeigten die Gruppen ihre Inszenierungen ausgewählter Texte vom Vortag. Auch hier: aufregende Vielfalt, bezaubernde Ideen und inspirierende Anstöße für die Aufarbeitung nicht nur politischer Konflikte oder Kontroversen.

Im Gespräch. Unter der Leitung von Christian Muggenthaler fand ein Gespräch zu Aspekten des Theaters sowie zur Problematik des deutsch-deutschen Verhältnisses 30 Jahre nach der Wiedervereinigung statt. Die Teilnehmer gaben einander Auskunft über ihre Motivation für Theaterarbeit und tauschten ihre Auffassungen und Erfahrungen aus. Im zweiten Teil wurde teils kontrovers und mit großem Ernst über das Verhältnis zwischen Deutschland Ost und West diskutiert. Dabei wurde ein weiteres Mal deutlich, dass Differenzen auch zwischen ähnlich sozialisierten Individuen entstehen und Grenzen in den Köpfen nicht einfach zu definieren sind. Sehr erfreulich: Die Gespräche wurden im unmittelbaren Anschluss in kleinen Runden ganz ungezwungen fortgesetzt.

„Drüben und drüben“. Das Stadtensemble des Nationaltheaters Mannheim übernahm mit seiner ortsspezifischen Performance nach dem gleichnamigen Roman den Festivalauftakt und lud die Gäste zu einem Spaziergang rund um den Stiftshof ein. Quasi wurde dort nach der symbolischen Hochzeit von Ost und West die sozialistische Utopie begraben und später auf der Bühne die Mauer wiedergeboren. Eine ideenreiche Inszenierung, die überaus reich an Metaphern, durch Düsternis in der Sprache und Präzision im Spiel bestach, den Raum für Erinnerungen oder Assoziationen öffnete und durch das eindringliche – zum Teil historische – Musikmaterial faszinierte.

„Fuge 89. Entwendete Biografien“. Das Stück lebt eigentlich von jener Interaktion mit dem Publikum, die heutzutage virusbedingt so oft auf der Strecke bleiben muss. Das Theater „Die Bühne“ von der TU Dresden verstand es dennoch, eine unkonventionelle Inszenierung zu präsentieren, die Klischees über den Osten aneinanderreihte, um sie am Ende durch die Benennung als „Vorurteile“ zu bannen und aufzuheben. Die Motivation dahinter: Man möchte hinterfragen, warum Pegida und Co. im Dresdener Raum so erfolgreich sind.

„Das achte Leben. Für Brilka“. Trotz aller coronabedingten Einschränkungen und der Notwendigkeit, extrem zu kürzen, geriet die Aufführung der Theatergruppe des Akademischen Gesangvereins München opulent und farbenfroh, ja beinahe üppig. Der enorme Aufwand hat sich gelohnt, denn es gelang, in kürzester Zeit einen Eindruck vom gleichnamigen Mammutroman zu vermitteln und beinahe ein Jahrhundert Zeitgeschichte – gewissermaßen in Splittern – zu spiegeln. Das Bühnenbild und (auch hier) historisches Musikmaterial illustrierten die universelle Familiensaga aufs Beeindruckendste. Ein besonders emotionaler Theaterabend!

„Familienfest“. Im Stück des „Bürger*innen-Ensembles“ des Deutschen Nationaltheaters Weimar gibt es die vielen Zuschauern bestens vertraute Konstellation, in der die Mutter Harmonie beschwört, irgendein Onkel rechte Parolen von sich gibt und ein linksorientierter Vetter die Torte direkt von der Platte löffelt. Die Oma aber, wenn sie über ihr Leben und ihre Ängste spricht, berührt das Publikum besonders stark. Das Ringen – um Haltung vielleicht oder um einen Platz in der Gesellschaft – wird in einer Kampfszene mit unheimlicher Körperkunst verbildlicht. Die Enttäuschung einer jungen Frau von ihrem pegidaaffinen Vater geht unter die Haut. Und doch darf auch gelacht werden.

„Die letzte Sau“. Die Backnanger Bürgerbühne als Gastgeberin beendete das Festival mit einem „Torso“ nach dem gleichnamigen Spielfilm und hofft auf eine „richtige Premiere“ im Frühjahr. Die Themen Tierwohl, Ernährung und Konsumverhalten werden in einer Tragikomödie verhandelt, die vom Setting und Bühnenbild her zunächst an herkömmliches Bauerntheater erinnert, dann aber mit Radikalität überrascht. Brandaktuell: Details zu Tierhaltung, Tiertransporten und Schlachtung werden dem Zuschauer nicht erspart. Kapitalismuskritik mit wunderschöner Livemusik und einem traurigen Happy End.

Nachgespräche. Zuschauer und Künstler werteten jede der Inszenierungen in von Experten moderierten Nachgesprächen aus. Florian Frenzel, Jasmin Meindl, Christian Muggenthaler, Christian Schidlowsky und Isabelle Stolzenburg gaben Gesprächsimpulse und hielten jeweils die Fäden in der Hand. So kam manchmal auch Überraschendes zutage, etwa dass eine „Coronafassung“ durch die Reduktion intensiver wirken kann als eine „voll ausgespielte“ Fassung oder dass Lebenslügen genauso wie ihre Aufhebung mit Paradoxen einhergehen, denn: „Zweifellos ist an allem zu zweifeln.“

„Fremd ist der Fremde nur in der Fremde“

Stadtspaziergang mit dem Ensemble aus Mannheim: „Vereinigt Euch!“ Foto: J. Fiedler

„Fremd ist der Fremde nur in der Fremde“

Die Backnanger Bürgerbühne nimmt sich des Themas Tierwohl und Konsum an. Foto: A. Becher