Gauthier Dance eröffnet das Colours-Festival mit Akram Khans „Turning of Bones“. Das archaische Ritual sorgt für Gänsehautmomente und Standing Ovations.
Ritual von archaischer Wucht: Gauthier Dance eröffnet das Colours-Festival mit Akram Khans neuer Produktion „Turning of Bones“.
Von Andrea Kachelrieß
Der Stein ist von Beginn an da; unscheinbar ruht er in den Händen des knienden Zeremonienmeisters. Doch der graue Riesenkiesel hat es in sich. Am Ende qualmt er unheilvoll, ein Mann liegt erschlagen inmitten der Gruppe Menschen, mit denen er eigentlich ein Stück Weg gehen wollte.
Es ist eine Geschichte von archaischer Wucht, die der britische Star-Choreograf Akram Khan für seine erste Zusammenarbeit mit Gauthier Dance erdacht hat. Getanzt wird sie in intensiven Szenen und mit einer Emotionalität, die immer wieder für Gänsehautmomente sorgt – und am Ende beim Publikum im Theaterhaus für begeisterten Applaus sorgt. Mit Standing Ovations wurde die Premiere von „Turning of Bones“ gefeiert, die zugleich das fünfte Colours-Festival eröffnete.
„Turning of Bones“ als Wendepunkt
Die Vorfreude von Eric Gauthier war entsprechend groß – nicht nur auf 18 prall gefüllte Tanztage auf dem Pragsattel. Sondern auch auf einen besonderen Tanzcoup. „Akram Khan hat noch nie ein abendfüllendes Werk für eine deutsche Kompanie gemacht“, sagte der kreative Kopf der Theaterhauskompanie bei der Begrüßung und deutete damit an, dass „Turning of Bones“ nicht nur die internationale Wahrnehmung von Gauthier Dance, sondern auch seine 16 Tänzerinnen und Tänzer verändern wird.
Insgesamt sechs Monate dauerte die Zusammenarbeit und hat sichtbar jede Muskelfaser mit dem dynamischem Stil des Choreografen durchdrungen, der sich vom indischen Kathak-Tanz bis zu Michael Jackson, vom klassischen Ballett bis zu Buster Keaton aus vielen Quellen speist. „Die Tänzer sind unglaublich“, machte Akram Khan das Publikum noch vor geschlossenem Vorhang neugierig und stimmte es auf die Colours-Idee ein. Die Welt werde immer schwarz-weißer, sagte der Choreograf und freute sich, Teil eines Festivals zu sein, das die Farben des Tanzes im Titel trägt und auf der Bühne versammelt.
Wie sich eine düstere Welt anfühlt, in der das Fremde Misstrauen erzeugt, in der Nationalismus Ängste schürt und Ausgrenzung erzwingt, in der ethnische Säuberungen und Völkermorde vielfachen Tod bringen, erfahren wir gerade täglich. Akram Khan erzählt in „Turning of Bones“ nicht von modernen Massakern, nicht von geschlossenen Grenzen oder von Aufenthaltstiteln. Ein Stein, eine Menschenhorde und ein Liebespaar reichen ihm, um in einem alttestamentarischen Drama aktuelle Einflüsterer mitzumeinen.
Beine klammern, Arme suchen nach Freiheit
Tuti Cedeño und Stefano Gallelli tanzen das junge Paar und deuten, wenn sie ihn mit beiden Beinen umklammert, während ihre Arme sanft wogen, in der Leichtigkeit einer neuen Liebe bereits die Unmöglichkeit ihrer Erfüllung an. Am Ende wird sie sich nicht nur für ihre Gruppe, sondern auch gegen das Neue entscheiden und selbst zum Stein greifen.
Das Ensemble atmet wie ein Körper
Bis es soweit ist, fasziniert „Turning of Bones“ mit grandiosen Gruppenszenen. Weit ausholend, aber von blitzschneller Energie sind die Bewegungen und gerade so synchron, dass große Lebendigkeit entsteht, was Gudrun Schretzmeiers indisch inspirierten Kostüme schön untermalen. Wie ein Körper tanzt und atmet dieser Stamm, baut mit Armen und Bewegungen zum Beispiel ein filigranes Netz, in dessen Mitte der Stein und Giovanni Visone als dämonischer Antreiber wie eine Spinne thronen.
Wer Akram Khans Werk seit längerem verfolgt, kann Motive aus „Vertical Road“, aus der Frühlingsopfer-Hommage „iTMOi“, aus dem mit Sylvie Guillem erarbeiteten „Sacred Monsters“ und anderen Stücken entdecken. Freuen darf man sich auch über das Solo aus „Desh“, für das Stefano Gallelli mit aufgemalter Fratze seinem rasierten Schädel makabres Eigenleben entlockt.
Mit Leidenschaft in Neuem aufgehen
Konzeptionelles Vorbild für „Turning of Bones“ war ein Ritual aus Madagaskar, bei dem die Menschen die Reste ihrer toten Angehörigen für ein „Knochenwende“-Fest aus den Grüften holen. Dabei berichten sie den Ahnen, was inzwischen alles passiert ist und packen sie neu ein. Ähnlich tritt auch Akram Khan mit alten Stücken noch einmal in den Dialog. Gefunden hat er beim Blick auf Knochen, die aus thematisch unterschiedlichen Kontexten stammen, eine gemeinsame DNS. Identität und Heimat, Fremdsein, etwas Neues entdecken und leidenschaftlich darin aufgehen, das sind die Themen, die den Briten mit Wurzeln in Bangladesch umtreiben. Anatomie einer Reise könnte „Turning of Bones“ auch heißen.
Eine Reise, die keine Wahl lässt
Wer mitreisen will, hat keine Wahl: Entweder man taucht komplett ein in das rund einstündige Ritual, oder man wird sich reiben – an den Gruppenszenen, die sich wiederholen, an ihrem Pathos, an der vorhersehbaren Dramaturgie, an den klagenden Chören in dem von Aditya Prakash montierten Sound.
Das Festival will Gemeinschaft stiften
Im Colours-Chor, den Programmmacher Meinrad Huber zusammengestellt hat, ist „Turning of Bones“ eine erste und starke Stimme. „Die Suche nach Gemeinsamkeiten, das, was uns verbindet“, so Huber über die fünfte Festivalausgabe, „steht im Vordergrund“.
Info – Das bietet das erste Colours-Wochenende
Begehrt Schon vor Beginn des Festivals hat das Colours-Team Grund zur Freude. „Mehr als 90 Prozent der Karten wurden bereits vor dem Start verkauft“, sagte Programmmacher Meinrad Huber. Vor allem die ersten beiden Festivalwochen seien gut gebucht.
BesuchFür das erste Colours-Wochenende gibt es dennoch Tickets für fast alle Veranstaltungen. Zu Gast im Theaterhaus sind die bunt gemischte Kompanie des französisch-senegalesischen Choreografen Amala Dianor (Sa, 20.30 Uhr) sowie die australischen Zirkusartisten Gravity And Other Myths mit neuem Programm (Sa, 16 und 19 Uhr, So 16 und 19.30 Uhr). Für die Vorstellungen von „Turning of Bones“ von Gauthier Dance gibt es nur noch Restkarten. Dafür bitten die Junioren am Sonntag (16.30 Uhr) bei freiem Eintritt zur Probe von „Barker“ in die Sporthalle.