Geschichte eines Außenseiters

WLB zeigt im Backnanger Bürgerhaus eine Fassung von Robert Seethalers Roman „Ein ganzes Leben“

Kann man „Ein ganzes Leben“ in einer Stunde und vierzig Minuten Revue passieren lassen, ohne nur an der Oberfläche zu kratzen? Die Aufführung der Württembergischen Landesbühne Esslingen (WLB) nach dem gleichnamigen Roman von Robert Seethaler im Backnanger Bürgerhaus zeigt: Man kann. Dabei wird dem Zuschauer allerdings nichts geschenkt.

Geschichte eines Außenseiters

Das schlichte Bühnenbild verstärkt den Minimalismus der Inszenierung von „Ein ganzes Leben“ der Württembergische Landesbühne Esslingen im Backnanger Bürgerhaus. Foto: J. Fiedler

Von Thomas Roth

BACKNANG. Es ist nicht der erste Seethaler-Stoff, den sich die Württembergische Landesbühne Esslingen vorgenommen hat. Bei „Der Trafikant“ schrieb der Autor die Bühnenfassung sogar selbst. Dann das Stück „Ein ganzes Leben“, das am 29. März 2019 in Esslingen Premiere hatte. Protagonist ist Andreas Egger (Christian A. Koch), der in einem abgelegenen Alpental als Waisenkind bei seinem Onkel aufwächst. Bei jedem Missgeschick verdrischt ihn der Großbauer mit einer zuvor eingeweichten Haselnussgerte, oft äußerst brutal. So kommt es auch zu Verletzungen und zu einem Hinkebein, mit dem Egger fortan leben muss.

Auf atmosphärische Mittel wird weitgehend verzichtet

Er ist Stallknecht und Tagelöhner, als er Marie trifft, die seine große Liebe werden sollte. Um einmal für eine Familie sorgen zu können, heuert Egger bei einer Firma an, die zum Bau von Bergbahnen Schneisen in die Berge rodet und Felsen sprengt. Bei einem womöglich durch die Eingriffe in die Natur ausgelösten Lawinenabgang kommt seine Marie ums Leben, das kurze Glück endet so jäh.

Egger aber lässt sich nicht unterkriegen. Als der Zweite Weltkrieg ausbricht, meldet er sich freiwillig zum Kriegsdienst, wird aber als untauglich abgelehnt. 1942 wird er dann aber doch, trotz seiner Behinderung, an die Ostfront geschickt. Kurz darauf gerät er für acht Jahre in russische Gefangenschaft.

Wieder zurück im namenlosen Alpenland wird er auf seine alten Tage Fremdenführer, erfährt dabei viel über die menschlichen Befindlichkeiten und führt ansonsten ein zurückgezogenes Leben. Mit seinem Schicksal hadert er nicht. „Er hatte alles, was er brauchte, und das war genug.“ Mit 79 Jahren stirbt er allein und mit der Welt versöhnt in seiner Scheune.

Welch anrührender Stoff! In dem so viel angesprochen wird. Angefangen von der Haltung eines Menschen, der trotz aller Erschwernisse unbeirrt einfach seinen Weg geht, über Liebe und Sterben, Freundschaft, menschliche Grausamkeiten und Einsamkeit, bis hin zu den Folgen des Massentourismus und des Klimawandels – das Eis gibt eine Leiche frei, die viele Jahre dort gelegen hat. Die Eisleiche ist übrigens jener Ziegenhirt (Wolfram Karrer), den Andreas Eggers zu Beginn des Stücks auf den Schultern trägt und der dann, nach einem Sturz seines „Retters“, davonläuft – wie man sieht: eine fatale Entscheidung.

In dieser Szene zu Beginn des Stücks gibt es tatsächlich einen kurzen Dialog, doch danach verharren die drei Schauspieler Koch, Karrer und Cathrin Zellmer in der Erzählerrolle. Auch verzichtet Regisseur Klaus Hemmerle weitgehend auf (technische) atmosphärische Mittel, die Stimmungen hätten unterstreichen können – allein die Akkordeon- und Querflöten-Live-Musik Karrers und Zellmers begleitet das Spiel. Durch diese Art der Inszenierung, in der die Figuren beispielsweise in der dritten Person über sich selbst reden, entsteht eine große Distanz zwischen Zuschauer und dem Geschehen auf der Bühne. Auch können die Schauspieler ihren Figuren auf diese Weise wenig Kontur verleihen. Sie haben keine Chance, mehr von ihren Fähigkeiten zu zeigen, um so das Publikum mehr in die Geschichte mitzunehmen und tiefer zu berühren. Mehr Theater, dafür weniger Erzählung: Das hätte der Inszenierung fernab einer reinen Lesung auf jeden Fall gut getan.

Ein berührender Stoff, den man nicht so schnell vergisst

Was bleibt, ist ein berührender Stoff, den man ganz sicher nicht so schnell vergisst, und Schauspieler, die sich durch dieses wenig abwechslungsreiche Spiel redlich durcharbeiten. Das schlichte Bühnenbild von Katrin Busching – eine Sesselliftsitzbank und ein Felsbrocken – verstärkt den Minimalismus der Inszenierung, abgeleitet wohl von der einfach gestrickten, lakonischen Charakterstruktur der Hauptfigur und dem Bestreben, ja keinen Heimatkitsch zu produzieren. Weniger sperrig inszenierte Jana Milena Polasek das Stück 2018 in Memmingen am Landestheater Schwaben. Da war deutlich mehr Theater zu erleben. Doch Klaus Hemmerle lässt eben mehr erzählen. Am Ende gibt es einen beachtlichen Applaus.