Hommage für Tilman Osterwold

„Immer und grundsätzlich für die Künstler“

Von 1973 bis 1993 leitete Tilman Osterwold den Württembergischen Kunstverein Stuttgart. Ein Jahr nach Osterwolds Tod ist es Zeit für eine neue Annäherung.

„Immer und grundsätzlich für die Künstler“

Tilman Osterwold prägte 1973 bis 1993 den WKV Stuttgart

Von Nikolai B. Forstbauer

Im Mai 1992 zieht Tilman Osterwold die Reißleine. 19 Jahre ist er Direktor des Württembergischen Kunstvereins Stuttgart, 19 Jahre verwandelt er im Kunstgebäude am Schlossplatz den Kuppelsaal wie den Vierecksaal in Bühnen der Diskussion. Noch ein Jahr – dann soll Schluss sein.

Kunst als Teil der Gegenwart

„In unserer Arbeit“, sagt Osterwold seinerzeit unserer Zeitung, „geht es nicht um die Gefühlslagen der Kunstszene, sondern um die Kunst als Teil unserer Gegenwart“. Und: „Dies nimmt die Gesellschaft jedoch durch die Verabsolutierung der Kunstszene vielleicht nicht mehr so wahr.“

Der Ton täuscht. Resignation ist für den gebürtigen Hamburger keine Option. Er lässt ein Ausstellungsfeuerwerk bis hin zu Pop-Ikone Andy Warhol folgen – und stellt doch selbstkritisch die Frage, ob das die Aufgabe eines Kunstvereins sein kann. Eines Ortes, der als Forum engagierter Bürgerinnen und Bürger doch außerhalb der in den 1980er Jahren immer wichtiger gewordenen Hitlisten zu Künstlerinnen und Künstlern steht.

Erinnerung an „Szenen der Volkskunst“

Geht das aber noch – eine Ausstellung als Nachdenken über die Möglichkeiten einer Ausstellung und die Rolle der Kunst? Tilman Osterwold blickt 1992 lieber zurück. „Ich glaube“, sagt er, „dass die Projekte ,Szenen der Volkskunst’, 1981, und ,Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft’, 1982, unser Interesse, die Kultur unserer Gegenwart über die Darstellung der Verbindungen zwischen zeitgenössischer Kunst und allgemein-kulturellen Entwicklungen begreifbar zu machen, besonders aufregend und erfolgreich waren.“ Und ergänzt: „Dabei spielt natürlich auch die Bereitschaft der Stuttgarter Öffentlichkeit eine Rolle, sich darauf einzulassen.“

1982 etwa, als es zum Thema Wohnen nicht etwa um außergewöhnliche Architektur geht. „Wohnsitz: Nirgendwo.“ heißt das mit dem Berliner Künstlerhaus Bethanien erarbeitete Projekt zu Geschichte und Gegenwart der Wohnungslosigkeit.

Osterwold vertritt seine Positionen vehement, ja, mit der Unbedingtheit eines Liebenden. Die Künstlerinnen und Künstler genießen das Vertrauen, wachsen mit den (Frei-)Räumen im Württembergischen Kunstverein über sich hinaus. So wie 1990 die damals 39-jährige New Yorkerin Barbara Bloom. Ihr später weltweit gespiegeltes „Reich des Narzissmus“ hatte in Stuttgart seine vor Ort entstandene Premiere.

Motor des Kunstnetzwerks

Nicht zuletzt laufen unter Osterwolds Regie im Kunstgebäude die Themen unterschiedlichster Kultureinrichtungen zusammen. Zuvorderst die 1990 neu gegründete Akademie Schloss Solitude, von Lothar Späth als Ministerpräsident initiierte international ausgerichtete Künstlerfördereinrichtung, das Institut für Auslandsbeziehungen und die Stadtbibliothek sind Partner des Kunstvereins.

Standardwerk zu Paul Klee

Und doch geht Tilman Osterwold 1993. Eine alte Liebe lockt ihn zehn Jahre später nach Bern in das neu gegründete Zentrum Paul Klee. 1979 hatte Osterwold Klee in einer der für Viele schönsten Klee-Ausstellungen als Wegöffner in das Unbekannte gefeiert. Das Katalogbuch „Ein Kind träumt sich“ ist bis heute ein Standardwerk – wie auch Osterwolds Gesamtblick „Pop Art“. Am 25. Juni 2021 stirbt Tilman Osterwold in Stuttgart.

Kann man fast 30 Jahre nach Osterwolds Abschied von der zentralen Bühne seines Lebens noch einmal umfassend zurückblicken? Muss man das? Iris Dressler und Hans D. Christ, seit 2005 Direktoren des Württembergischen Kunstvereins, lassen sich Zeit mit der Antwort. Nun, ein Jahr nach seinem Tod, ist die „Hommage für Tilman Osterwold“ zu sehen. Noch bis zum 10. Juli. Ein Zitat dient als Titel: „Ich bin immer und grundsätzlich für die Künstler.“ Zu sehen sind Plakate, Briefe, Fotos, zuvorderst aber eine Bibliothek. Im Ganzen unscheinbar fast und doch durchdrungen vom Prinzip des Archivs als zentraler Größe des Wirkens von Iris Dressler und Hans D. Christ – bis hin in die aktuelle Präsentation zu der US-Amerikanerin Carrie Mae Weems.

Bis 1993 sitzt Tilman Osterwold gerne auf einem Stuhl am Eingang des Kunstgebäudes. Den Schlossplatz vor sich. Im hellen Anzug, einfarbigen Hemd und meist braunen Lederschuhen. Jetzt kann man sein vernetztes Denken neu entdecken. Und damit fragen, wie wichtig dies heute ist: Ausstellungen als Nachdenken über die Möglichkeiten einer Ausstellung und die Rolle der Kunst.