Kind im Lesekarton, bitte nicht stören

Geschichten rund ums Lesen: Heute ist der Welttag des Buches und des Urheberrechts. Er wurde 1995 durch die Unesco eingeführt, um das Lesen, Bücher, die Kultur des geschriebenen Wortes und auch Autorenrechte in den Fokus zu rücken.

Kind im Lesekarton, bitte nicht stören

Lesen ist zeitlos. Diese Kirchberger Schulkinder lassen sich beim Schmökern durch nichts und niemanden stören. Das Bild entstand bei einem Büchereibesuch vor der Pandemie im Dezember 2018. Foto: Bücherei

Von Simone Schneider-Seebeck

BACKNANG/KIRCHBERG AN DER MURR. Es gibt sicher kaum einen Menschen, der nicht sein ganz spezielles Lieblingsbuch hat. Das er immer wieder hervorholt, egal wie zerlesen es aussieht. Mit dem man Erinnerungen verbindet, das einem vielleicht in schwerer Stunde Trost gespendet hat. Und wer hat nicht selbst stundenlang unter der Bettdecke im Schein der Taschenlampe gelesen, damit die Eltern ja nicht mitbekommen, dass man noch nicht im Reich der Träume weilt? Manch einem mag das gedruckte Wort in unserer immer digitaler werdenden Welt zu analog, ja, richtiggehend antiquiert vorkommen. Dennoch – eine Wohnung ohne Bücher ist immer noch für viele kaum vorstellbar. Es soll sogar Menschen geben, die sich Buchhüllen ins Regal stellen, um dadurch einen belesenen und gebildeten Eindruck zu erwecken.

Ulrich Schielke, ehemals unter anderem Schulleiter der Tausschule und geschäftsführender Schulleiter aller Schulen, hat achtmal federführend die Backnanger LiteraTour vorbereitet. Unvergessen bleibt ihm eine Episode aus den 1990er-Jahren. Damals fand in der heutigen Galerie im Rahmen der LiteraTour eine Art Bücherflohmarkt statt. An zahlreichen Ständen waren Bücher und Hefte aller Art zu erwerben. Eine kleine Leseratte konnte es gar nicht erwarten, sich in das frisch erworbene Petzi-Heft zu vertiefen. Am Ende der Wendeltreppe in dem alten Gebäude standen Kartons, und in Ermangelung einer anderen Sitzgelegenheit machte es sich das Kind einfach in einem solchen gemütlich. „Es war für mich so beeindruckend damals, wie Kinder in eine andere Welt eintauchen und sich in das, was sie lesen und da erleben, vertiefen können“, so Schielke. „Da sind Bücher hervorragend dafür geeignet. Sie eröffnen Kindern eine andere Welt.“ Da aktuell so gut wie keine Präsenzlesungen stattfinden können, entwickelt und erprobt etwa der FriedrichBödecker-Kreis Baden-Württemberg digitale Formate dafür. Und das funktioniere sehr gut, berichtet Schielke, der Vorsitzende des Vereins.

Der besondere Lesegutschein für die Tochter.

Auch Plaisirschulrektorin Annedore Bauer-Lachenmaier hat so ihre Erfahrungen mit der Welt der Bücher – und das nicht nur, weil sie dreimal die LiteraTour geleitet hat. Sie liest selbst sehr gern, zu ihren Lieblingsautoren gehören etwa John Irving und T.C. Boyle, und sie hat auch ihren Kindern früher immer viel vorgelesen. „Meine Tochter war unersättlich“, lacht die Rektorin der Plaisirschule. Und so lag es nahe, dem Mädchen zum Geburtstag folgenden Gutschein zu schenken: „Ich lese dir so lange vor, bis ich nicht mehr kann oder du nicht mehr magst.“ Die Tochter ist nun 31 und der Gutschein wartet noch immer darauf, eingelöst zu werden. Von einem Verfallsdatum war jedoch nicht die Rede. Gerade jetzt in der Coronazeit ist das Lesen für Bauer-Lachenmaier unheimlich wichtig. Denn Bücher ermöglichen, wenn auch keine Reise im physischen Sinn, so doch eine Reise in die Welt der Fantasie. Daher mag sie auch keine Buchverfilmungen ansehen. Sie hat sich ihre eigene Bilderwelt erschaffen und möchte sie nicht durch festgelegte Filmbilder ersetzen.

Eine besondere Geschichte hat die katholische Bücherei in Oppenweiler: Sie begann als Rollladenschrank. Selbstverständlich sprengten die Bücher diesen Rahmen schnell, mittlerweile ist sie im Bahnhof Oppenweiler untergebracht. Erfreulich für die Nutzer ist, dass dort keine Gebühren erhoben werden, da die Bücherei einerseits von der katholischen Kirche ins Leben gerufen wurde und andererseits auch von der Gemeinde Oppenweiler unterstützt wird. „Solange das irgend geht, soll das auch beibehalten werden“, so Leiterin Irene Heining-Csauth. Vorschulkinder können dort ihren Bibliotheksführerschein machen, ein Angebot der Diözese. Und das geht so: Die Kinder besuchen die Bücherei viermal und dürfen sich jedes Mal auch etwas ausleihen. Es wird erklärt, wie eine Bibliothek aufgebaut ist, wie Bücher sortiert sind und weiteres Wissenswertes rund um das Thema. Den Abschluss bildet das Büchereifest zusammen mit Eltern und Kindern. „Das lohnt sich und die Kinder sind mit Begeisterung dabei“, erklärt Heining-Csauth. „Wir machen da auch schon die erste kleine Buchvorstellung im Sachbuchbereich.“ Die Kinder dürfen sich ein Bilderbuch über Tiere ansehen: „Sie können dann den anderen Kindern erklären, was sie jetzt aufgrund der Bilder über das Tier herausgefunden haben. Das kommt ganz gut an.“ Wie auch in anderen Büchereien ruhen jedoch momentan alle Aktivitäten.

Auch in der Ortsbücherei Kirchberg an der Murr werden keine Gebühren erhoben, selbst dann nicht, wenn die Leihdauer etwas überzogen wurde. Grund war ein prägendes Ereignis, wie Leiterin Katrina Hlatky erzählt. Bei einem jungen Büchereibesucher war die Leihfrist schon seit einiger Zeit überzogen. Nun kam das Kind mit Mutter und Sparschwein, denn die Gebühren sollten mit dem Ersparten beglichen werden. Auch wenn Hlatky abwinkte, da sie befürchtete, so einen jungen Nutzer zu verlieren, bestand die Mutter darauf, dass das Kind die Schuld mit dem eigenen bezahlt. Zwei Folgen ergaben sich daraus: Wie befürchtet kam das Kind nie wieder und von diesem Tag an entfielen die Gebühren. „Bei uns soll es Spaß machen“, findet die Büchereileiterin, die schon seit 25 Jahren dabei ist. „Die Kinder sollen gern kommen.“ 2012 war die Bücherei aus ihrem alten Domizil im Kindergarten Schulstraße ins Schulgebäude umgezogen und besonders das große Rundfenster ist der Hit bei den jungen Besuchern. In der Rundung lässt es sich nämlich ausgesprochen gut rutschen. Doch selbstverständlich wird auch viel gelesen. So mancher nutzt die hellen Räume, um sich zurückzuziehen und ungestört zu schmökern. Viele, die als Kinder dort waren, sind mittlerweile selbst Eltern und kommen mit ihren Kindern her. Die Bücherei ist zudem ein fester Bestandteil im Schul- und Kindergartenalltag. So kommen die Vorschulkinder meist Anfang des Jahres und stöbern nach Herzenslust, die Dienstagvormittage sind für die Schulkinder reserviert. Ein bestimmtes Lieblingsbuch gibt es bei den Kindern nicht, aber Bände aus Buchreihen werden gern ausgeliehen. So ist beispielsweise die neue Buchreihe „Little People Big Dreams“ aus dem Insel-Verlag gerade recht beliebt. Dabei geht es um kindgerecht aufbereitete und schön bebilderte Biografien berühmter Menschen wie etwa Jane Goodall oder Mutter Teresa. Außerdem gilt: „Comics gehen immer.“

Wenn die Kinder zum Buch und die Eltern zum Hörbuch greifen.

Das hat auch Heike Bareiter festgestellt, die zusammen mit Judith Nagy die Bücherei Burgstetten im Ortsteil Erbstetten führt: „Vor allem bei den Jungs.“ Vor Corona gab es dort alle vier bis sechs Wochen den „Treffpunkt Leserabe“ für Kinder von fünf bis zehn Jahren. Dabei wird eine Geschichte angehört und im Anschluss gibt es etwas zum Basteln. Auch die Kindergartenkinder kommen – zu normalen Zeiten – einmal im Monat zu Besuch, um zu stöbern und vorgelesen zu bekommen. Überhaupt kommt das Vorlesen für Heike Bareiter keinesfalls aus der Mode, trotz der vielen konkurrierenden digitalen Angebote. Sie hat sogar den Eindruck, dass den Kindern in manchen Fällen richtige Bücher wichtiger sind als ihren Eltern. „Sie würden lieber vorgelesen bekommen, aber die Eltern nehmen eher ein Hörbuch mit“, bedauert Bareiter.

Ein gedrucktes Buch in der Hand zu halten, das ist ein besonderes Erlebnis. Man kann sich nur auf dieses eine Medium konzentrieren und das mit (fast) allen Sinnen, denn nicht nur Auge und Gehirn werden angesprochen, sondern auch Tast- und Geruchssinn. Und im Bücherregal wirkt eine schöne Büchersammlung ebenfalls besser als ein einsamer E-Book-Reader. Eine Bekannte beispielsweise hat ihre Bücher farblich sortiert als Blickfänger im Wohnzimmer verteilt. Daher – feiern wir das Buch.