„Kulturelle Bildung ist Persönlichkeitsbildung“

Das Interview: Kirchenmusikerin Christiane Schulte spricht über berufliche Veränderungen, die Arbeit in den vergangenen Jahren mit Kindern und Jugendlichen der Katholischen Singschule Backnang und die Bedeutung des Chorgesangs für die kleinen Sängerinnen und Sänger.

„Kulturelle Bildung ist Persönlichkeitsbildung“

Christiane Schulte gibt nach rund 14 Jahren die Leitung der Katholischen Singschule Backnang ab und konzentriert sich auf ihren Lehrauftrag an einer privaten katholischen Fachschule für Sozialpädagogik in den Fächern Musik und Rhythmik in Ludwigsburg. Foto: A. Becher

Von Ingrid Knack

„Der kleine Prinz“ der Katholischen Singschule Backnang mit Musik von Naho Kobayashi hätte morgen Premiere gehabt. Und fiel nun der Pandemie zum Opfer. Wie haben die kleinen Sänger darauf reagiert?

Wir haben zunächst versucht, die Aufführungen zu retten, indem wir uns den immer weiteren Einschränkungen angepasst haben. Statt eines Orchesters hätten wir die Begleitung auf Klavier und Solovioline reduziert, statt der vollen Chorgröße von 60 Kindern und Jugendlichen nur noch 18 Sängerinnen und Sänger in drei Reihen mit einem Abstand von drei Metern nach vorne und hinten. Dabei hätte aber ein Großteil der Beteiligten nicht mitmachen können. Für die Kinder war es ein Schock, es fühlt sich an, wie vor die Wand zu fahren. Wir haben seit Januar geprobt, wir können die Lieder auswendig, die Zeit war reif. Es tut sehr weh. Ich habe versucht, sofort gegenzusteuern, um die entstandene Leere mit neuen Perspektiven zu füllen, Proben mit den nur noch erlaubten acht Teilnehmern für Gottesdienste und für Weihnachten.

Gibt es einen eventuellen Aufführungstermin im nächsten Jahr?

Ob es einen neuen Aufführungstermin geben wird, hängt davon ab, ob meine Nachfolge das Projekt aufgreifen wird.

Seit 2006 leiten Sie die Katholische Singschule mit großem Erfolg. Dies wäre Ihr Abschlussprojekt gewesen. Wie geht es für Sie ganz persönlich weiter?

Parallel zur Leitung der Singschule habe ich zurzeit bereits einen umfangreichen Lehrauftrag an einer katholischen privaten Fachschule für Sozialpädagogik für die Fächer Musik und Rhythmik. Deshalb werde ich ab Januar hoffentlich beruflich etwas Entlastung spüren.

Was bedeutet dies im Zusammenhang damit, dass Sie und Ihr Mann 2001 gemeinsam an die St.-Johannes- und Christkönigskirche in Backnang berufen wurden?

Die Tätigkeit meines Mannes als Regionalkantor bleibt von meinem Weggang unberührt, weil es bisher schon eine Aufgabentrennung gab.

Im Januar soll die Katholische Singschule in neue Hände gegeben werden. Steht schon fest, wer Ihre Nachfolgerin oder Ihr Nachfolger wird?

Meine Stelle war ganz offiziell ausgeschrieben und es liegen glücklicherweise Bewerbungen vor. Ende November werden sich die Bewerberinnen und Bewerber in einem Bewerbungsverfahren mit Proben und Gesprächen einer Kommission vorstellen. Mehr darf ich dazu nicht sagen, außer vielleicht, dass die Bewerberlage sehr hochkarätig ist.

Sie haben zahlreiche große und kleine Projekte mit der Katholischen Singschule realisiert. Dabei spielten auch Kooperationen eine Rolle. Kooperationen in der Kultur waren ja eines der großen Themen in den vergangenen Jahren. Wie haben Sie das kulturelle Klima in diesem Bereich in Backnang erlebt?

Die Kooperationen waren das Beste, was uns passieren konnte. Den Zusammenhalt der Kulturschaffenden in Backnang erlebe ich als sehr stark. Die Zusammenarbeit mit Künstlern wie Gregor Oehmann, Barbara Kastin und Stefanie Hübner zum Beispiel für Bühnenbilder oder Begleitausstellungen, die Kooperation mit den Leiterinnen des Bandhaus-Theaters, Juliane Putzmann und Jasmin Meindl, in Sachen szenische Arbeit und Regie bei Musiktheaterprojekten war immer sehr inspirierend. Es war ein wertschätzendes Geben und Nehmen durch die Arbeit im Team. Auch die Backnanger Jugendmusikschule hat uns oft unterstützt und den Chor musikalisch begleitet. Dieser Austausch ist extrem wertvoll.

Momentan sind neue coronataugliche Konzepte für die Kultur, neue Formate wie Kultur auf Autokinobühnen oder im Netz das große Thema. Wie sieht es aber im Bereich Jugendkultur beziehungsweise kulturelle Bildung der Kinder und Jugendlichen aus? Auch die Flauschohrenkonzerte im Bürgerhaus, die Ihr Mann ins Leben gerufen hat, können derzeit ja nicht stattfinden. Was wird aus der Kinder- und Jugendkultur, wenn es so weitergeht?

Ein Chor ist ein Chor ist ein Chor. Nichts kann dies ersetzen, kein Kleinformat, keine Zoom-Probe. Auch das Liveerlebnis eines Konzerts ist unersetzbar. Alle coronatauglichen Neuformate sind wichtige Brücken, um den Kontakt zum Publikum und zu den Ausführenden zu halten, aber sie sind eben nur Brücken. Die Kinder und Jugendlichen, obwohl sie „Digital Natives“ sind, wollen die echte, leibhaftige Begegnung. Wenn es so weitergeht, verkümmert die Persönlichkeit unserer Kinder und Jugendlichen. Kulturelle Bildung ist Persönlichkeitsbildung. Ein Statement eines Jugendchormitglieds lautete einmal: „Ich singe, weil ich mich sonst nicht vollständig fühle.“ Das sagt eigentlich alles. Den Kindern wird zurzeit ein Teil ihres Ichs genommen.

Die Singschule ist seit 2010 Mitglied im internationalen Chorverband Pueri Cantores, dessen zweite Vorsitzende Sie von 2017 bis Anfang 2020 waren. Was hat das konkret für die Sängerinnen und Sänger der Katholischen Singschule Backnang bedeutet?

Der Verband Pueri Cantores steht vor allem für die großen Chorfestivals. Durch unsere Mitgliedschaft im Chorverband konnte ich der Singschule die Teilnahme an den großen bundesweiten Chortreffen ermöglichen. Es ist ein unglaubliches Erlebnis, wenn in einem riesigen Dom die gesamten Bänke ausgeräumt werden, damit 4000 Kinder und Jugendliche darin Platz finden. Noch überwältigender ist es, wenn dann diese 4000 Teilnehmer tatsächlich gemeinsam singen, und zwar sehr anspruchsvolle Chorliteratur. Die Vorbereitung auf die Festivals hat uns also auch immer musikalisch sehr viel weitergebracht, weil wir uns durch ein eigens für die Festivals herausgegebenes Chorbuch durcharbeiten mussten. Die Backnanger können bei den Treffen ihren Horizont erweitern, weil sie Chöre erleben, die in einer anderen Liga spielen, zum Beispiel die Trierer Domsingknaben unter Thomas Kiefer oder die Regensburger Domspatzen, und doch sind sie gleichzeitig durch Pueri ein Teil davon.

In der Katholischen Singschule werden über 80 Kinder im Alter von 4 bis 18 Jahren sängerisch gefördert. Das ist eine enorme Zahl. Hat die Begeisterung der Kinder auch damit zu tun, dass sie Teil hochkarätiger Aufführungen sein dürfen? Was ist Ihr Erfolgsgeheimnis?

Ich habe kein Geheimnis – oder vielleicht doch das vom kleinen Prinzen: „man sieht nur...“ Sicher ist es eine Motivation für Kinder, bei einem anspruchsvollen Projekt dabei zu sein. Das schweißt zusammen. Gemeinsam erarbeitet man sich die Partitur, die Töne, den Text, den Sinn dahinter, und fiebert der Aufführung entgegen. Mir ist aber bei aller Projektarbeit die wöchentliche Chorprobe sehr wichtig, in die ich – so gut es geht – immer vorbereitet gehe. Das ist mein Anspruch an mich selbst. Aber bei allem musikalischen Anspruch ist es mir auch wichtig, die Kinder ernst zu nehmen, Bezugsperson zu sein, einen Lebensabschnitt zu begleiten mit einer sinnvollen Beschäftigung und Werte wie Struktur, Disziplin und Durchhalten zu vermitteln, ohne die ein gemeinsames Musikmachen nicht möglich ist.

Ausbildung und Beruf

Christiane Schulte studierte Kirchenmusik (A), Cembalo und Elementare Musikpädagogik an den Musikhochschulen in Detmold, Ann Arbor (University of Michigan, USA) und Stuttgart. Während ihres Auslandsstudiums war sie Stipendiatin der internationalen Rotary-Foundation. Von 1998 bis 2001 war sie als Kirchenmusikerin an der Stadtkirche St. Peter und Paul in Weil der Stadt tätig.

Im Dezember 2001 wurde sie gemeinsam mit ihrem Mann Reiner Schulte an die St.-Johannes- und Christkönigskirche in Backnang berufen. Dort gründete sie 2006 die Katholische Singschule Backnang. Von 2009 bis 2011 unterrichtete sie am Berufskolleg für Sozialpädagogik des Kreisberufsschulzentrums Backnang die Fächer Musik und Rhythmik. Von 2013 bis 2018 war sie Dozentin an der privaten Fachschule für Sozialpädagogik der Ludwig-Schlaich-Akademie Waiblingen für die Fächer Musik und Chorsingen. Seit September 2018 ist Christiane Schulte als Lehrkraft für Musik und Rhythmik am St.-Loreto-Institut für soziale Berufe in Ludwigsburg tätig.