Kunst, die Realität schafft

Theater Aalen spielt E.T.A. Hoffmanns „Der goldene Topf“ im Backnanger Bürgerhaus

E.T.A. Hoffmanns Kunstmärchen „Der goldene Topf“ ist geradezu exemplarisch für die fragilen Grenzen menschlicher Wirklichkeit. Es wurde überzeugend als multimediale Inszenierung vom Theater Aalen im Backnanger Bürgerhaus aufgeführt.

Kunst, die Realität schafft

Die Novelle „Der goldene Topf“ bezeichnete der Autor als „Märchen aus der neuen Zeit“: Szene der Backnanger Aufführung. Foto. A. Becher

Gabriella Lambrecht

BACKNANG. Den Regisseuren Tonio Kleinknecht und Marco Kreuzer gelang es beeindruckend, die für Leser im ersten Moment kryptisch erscheinende Geschichte verständlich in das 21. Jahrhundert umzusetzen. Der Prosatext des Märchens ist definitiv eine Herausforderung für jede Inszenierung, da Wirklichkeit und fantastische Welt untrennbar verwoben sind. Es bedarf großer Überlegungen und Ideen, alle Wirklichkeitsebenen auf die Bühne zu bringen. Die Erzählinstanz im Drama weist den Zuschauer bereits zu Beginn darauf hin, was ihn erwartet: „Am Ende werdet ihr nicht einmal mehr wissen, ob Anselmus und der Archivarius jemals wirklich existiert haben.“ Jenem Anselmus, dem Protagonisten, ist es selbst unmöglich, Träumereien und Fantasie von der Wirklichkeit zu unterscheiden. Auch seine Liebe für das mystische Traumwesen Serpentina kann er nicht von jener für die nur allzu reale, materialistisch veranlagte Veronika abgrenzen. Die Krux: Während er Serpentina wahrhaftig liebt, ist er Veronika nur aufgrund eines faulen Zaubers durch eine Hexe zugetan. Schließlich gelingt es ihm, die Fesseln der Realität zu durchschlagen, um mit Serpentina im sagenumwobenen Atlantis zu existieren.

Kleinknecht und Kreuzer entschieden sich dafür, die vermeintlichen Illusionen des Anselmus, zu denen auch Serpentina gehört, mittels Leinwandprojektionen umzusetzen und damit die Wirklichkeit des Theaters um eine Ebene zu bereichern, nämlich der virtuellen: Auch heute verschwimmen Grenzen zwischen Realität und Illusion im Cyberspace.

„Ich erlebe die Welt als sehr zweigeteilt“

Kleinknecht sah hierin den Reiz und die Herausforderung der Inszenierung: „Ich erlebe die Welt als sehr zweigeteilt: Einerseits leben wir in einer durch die Technologie globalisierten Gesellschaft, in der alles nach wirtschaftlicher Effizienz strebt, andererseits entfliehen wir immer mehr in eine virtuelle Welt.“ Das Theater verstehen beide hingegen als einen Ort „der Verlangsamung, der die Möglichkeit des Ausprobierens und Scheiterns offenlässt“, und verweisen damit auf die metapoetologische Ebene der Inszenierung. „Poesie ist für Menschen unbedingt notwendig, um die weltliche Existenz erträglich zu gestalten,“ erläutert Kreuzer. So begegnet auch Anselmus seinem Glück, ja seiner Liebe Serpentina in den Archiven, Mythen und Geschichten, die er bei Archivarius Lindhorst in der Bibliothek vorfindet.

Videoinstallationen spiegeln diese Ebene der Subjektivität des Anselmus auf der Bühne: Gewitter, Granitfelsen und Sommerwiesen – Korrespondenzlandschaften der Gefühlszustände von Anselmus, sie überlagern sich mit Bildern mystischer Drachen, wechseln zwischen den drei Projektionsflächen, und es gibt teils verzerrte Stimmen und Klänge aus dem Off. Alles schwebt so wirklich und doch nicht greifbar durch den Raum des Bürgerhauses. Die Besucher sind unweigerlich gefesselt von der multimedialen Inszenierung: Sie folgen den Installationen, versuchen diese zu entschlüsseln, die Grenzen zwischen Anselmus’ vermeintlicher Wirklichkeit und Illusion auszuloten und horchen der ebenfalls durch Videoprojektionen dargestellten Erzählinstanz auf der Suche nach Wahrheit.

Am Ende aber bleibt das Publikum mit der großen Frage zurück: Wenn Anselmus wirklich zu sein schien und nun Teil der Illusion ist, wie wirklich sind dann Realität, Illusion und die virtuelle Welt des Zuschauers überhaupt noch?